Suchbegriff eingeben:

Der virtuelle Proberaum

Ein Junge im T-Shirt steht in einem Klassenraum. Er hat eine VR-Brille auf dem Kopf und hält einen Controller in der Hand.

Ich gebe zu, der mir Anfang der 90er Jahre von meinen Eltern liebevoll auferlegte Blockflötenunterricht im kirchlichen Jugendverein war meiner Begeisterung fürs Musizieren eher wenig zuträglich. Schon damals wollte ich meine Freizeit lieber am Gameboy verbringen. Und wenn schon Musik, dann doch zumindest E-Gitarre oder Schlagzeug. Irgendwas Cooles, Modernes halt – und am besten mit ein bisschen Technik.

Umso überraschter war ich, als ich kürzlich vom neuesten Vorhaben des Braunschweiger Protohaus erfuhr: Der Makerspace plant im Rahmen seiner makerAcademy gemeinsam mit dem Verein Aktion Musik / local heroes aus Salzwedel den wohl ersten Musikunterricht in Virtual Reality. Über die Grenzen des Klassenzimmers hinaus sollen Jugendliche in einem virtuellen Proberaum und Tonstudio miteinander musizieren können und dabei sogar eigene Instrumente entwickeln, die anschließend am 3D-Drucker Realität werden.

Eine ungewöhnliche Partnerschaft

Ich bin zur Telefonkonferenz mit Constanze Geishauser, Projektmanagerin im Protohaus, sowie ihrem neuen Kollegen Tobias Stelzer, Ingenieur und Virtual-Reality-Entwickler, verabredet. „Seit Monaten ist es bei uns eher still, und auch der local heroes e. V. kann seiner gemeinnützigen Arbeit nur eingeschränkt nachgehen“, erzählt mir Constanze. „Darunter leiden natürlich zu allererst die Kinder und Jugendlichen, die bei unserer Arbeit im Vordergrund stehen.“ Also habe man sich kurzerhand zusammengesetzt und ein krisentaugliches, zukunftsgewandtes Konzept entwickelt, von dem alle profitieren.

Der Kontakt zwischen dem Protohaus und dem Musikverein aus Salzwedel, der auch die gleichnamigen Band Contests veranstaltet, besteht bereits seit zwei Jahren: „Julia Wartmann von den Local Heroes kam damals mit der Idee zu uns, Musik und neue Technologien zu verbinden“, erinnert sich Constanze. „Gemeinsam haben wir dann einen Workshop für 3D-Druck-Instrumentenbau entwickelt.“ Und nun habe man sich eben überlegt, wie der beeinträchtigte Kulturbereich in der aktuellen Situation mit innovativen Formaten rund um die Digitalisierung gefördert werden kann. „Unsere Leidenschaft ist Technologie, ihre Leidenschaft ist die Musik. Das ergänzt sich einfach super“, fasst sie die ungewöhnliche Partnerschaft zusammen.

Ein Kind lächelt in die Kamera, zwei Hände von erwachsenen halten eine flache, achteckige Box in den Händen und bohrt mit einem Bleistift in die Seite.
Beim Bau von Instrumenten aus dem 3D-Drucker wurden auch Tambourine gebaut.

Die Grundidee ist so genial wie einfach: Mit 3D-Brillen tauchen vier Jugendliche in einen virtuellen Proberaum ein und bedienen dort mit ihren Händen virtuelle Instrumente – die dadurch aber echte Töne erzeugen! Auf diese Weise sind nicht nur der Freiheit und Kreativität bei der Instrumentenwahl keine Grenzen gesetzt, sondern auch dem Aussehen des Proberaumes oder des eigenen Avatars. Ideal also besonders in Zeiten des Social Distancing, denn die Teilnehmenden müssen theoretisch nicht mal am selben Ort sein.

Gemeinsam den Musikunterricht der Zukunft gestalten

„Das werden zu Anfang erst mal klassische Musikinstrumente sein wie Klavier, Gitarre, Trompete oder Schlagzeug. Die Teilnehmenden können dann miteinander jammen wie bei einer Bandprobe oder im Rahmen eines Musikunterrichts Neues lernen“, erzählt mir Tobias, der die App programmiert. Später sollen dann noch Möglichkeiten zum Erschaffen eigener Instrumente, die anschließend 3D-gedruckt werden können, oder motivierende „Gamification“-Ansätze hinzukommen, so der Entwickler: „Wenn Musik gespielt wird, erwacht der virtuelle Raum zum Leben. Je lauter und dynamischer die Musik, desto mehr magische Dinge passieren, fremde Dimensionen öffnen sich und vieles mehr.“

Zwei Roboterhände halten zwei virtuelle Schlagstöckeln über eine virtuelle Trommel.
Eine Ansicht aus einem frühen Prototypen der VR-App für virtuelle Proberäume. Hier spielt der Proband Trommel. Screenshot: Tobias Stelzer

Das Projekt ist im Januar gestartet und steht daher natürlich noch in den Kinderschuhen. Doch schon bis April soll der erste Prototyp der App, die deutschlandweit kostenlos zum Download bereitstehen wird, fertig sein. Anschließend geht es in die Praxis: „Sobald es wieder möglich ist, werden wir mit eigenen VR-Brillen in Schulen geht, um dort den Musikunterricht gemeinsam zu gestalten“, kündigt Constanze die Pläne für die zweite Jahreshälfte an. „Und darüber hinaus wird es für Kinder und Jugendliche wie immer die Möglichkeit geben, nachmittags oder in Wochenend- und Ferienworkshops zu uns ins Protohaus zu kommen.“

Und auch wenn das Virtual Music Lab zu den glücklichen Gewinnern einer Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes im Rahmen des Programms „Neustart Kultur“ gehört, sei Unterstützung immer willkommen: „Ob Instrumentenhersteller oder IT-Unternehmen aus der Region – wir freuen uns über alle, die Musik, 3D-Druck und Virtual Reality in irgendeiner Form unterstützen möchten“, erzählt mir Constanze. „Gerne können auch jetzt schon Schulen auf uns zukommen und mit uns Ideen entwickeln.“ Nach dem Gespräch mit den beiden bin ich auf jeden Fall schon sehr auf den Sommer gespannt! Denn in virtuellen Welten greife ich doch gerne noch mal zur Blockflöte.

Artikelbild: Lea Burgdorf
Text: Stephen Dietl

Keine Kommentare

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind markiert *. Bitte beachten Sie unsere Netiquette und unsere Datenschutzerklärung.