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Denkmal oder Bausünde?

Was haben der Braunschweiger Rathausanbau, der Hauptbahnhof und die Stadthalle gemeinsam? Alle drei Gebäude sind Bauten der Nachkriegs-Moderne, die nicht jedem Betrachter besonders gut gefallen. So mancher würde sie sogar als hässlich bezeichnen und am liebsten abreißen lassen. Unter dem Titel „Brutal modern“ beschäftigt sich das Landesmuseum in Kooperation mit der Braunschweigischen Landschaft e. V. und der TU Braunschweig deshalb nun in einer Sonderausstellung mit dem Thema Architektur und Leben in den 60er und 70er Jahren. Am Ende stellt sich dann die alles entscheidende Frage: Erhalten oder Abreißen?

Brutalismus in der Region

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Umbauen? Sanieren? Abreißen? Foto: BSM

Ich bin heute zu Besuch im Landesmuseum, es ist Montag und die Sonderausstellung offiziell geschlossen. Dr.-Ing. Katrin Keßler von der TU Braunschweig hat trotzdem angeboten mich ein wenig herumzuführen und erwartet mich bereits. Gemeinsam betreten wir die große Halle des Museums, wo uns auch schon ein kleiner Vorgeschmack auf die neue Ausstellung erwartet. Eine große Leinwand zeigt ein altes Foto unseres Rathausanbaus. Daneben steht eine Pinnwand und auf einem Tisch liegen Stifte und Papier. „Wir fordern hier unsere Besucher auf, ihren eigenen Entwurf für ein neues Rathaus zu zeichnen, da der aktuelle Bau oft auf Kritik stößt. Dabei sind schon ganz unterschiedliche und spannende Ideen entstanden“, zeigt mir die Bauexpertin.

Wir steigen die Treppen zur Ausstellungsfläche empor, an den Wänden begleiten uns dabei Zitate zum Thema Architektur. Oben angekommen erklärt mir Katrin Keßler erst einmal das System der Ausstellung: „Wir zeigen 20 Gebäude aus der Region Braunschweig-Wolfsburg-Salzgitter, von der Schule bis zur Kirche.“ Sie alle stammen aus den 60er und 70er Jahren und werden dem kalten, nüchternen Architekturstil der Moderne, dem Brutalismus, zugeordnet. Noch heute polarisieren sie stark.

Geschichten hinter der Fassade

Für die Besucher ist die Ausstellung farblich in drei Zeitabschnitte unterteilt, rot von 1958 bis 1965, orange von 1966 bis 1973 und gelb von 1974 bis 1976. An der Wand verläuft zusätzlich ein Zeitstrahl, der passend zur Bauzeit der Gebäude auch politische, kulturelle und gesellschaftliche Ereignisse zeigt. Zu jedem einzelnen Bauwerk gibt es immer viele Hintergrundinformationen, wie Fotos und Pläne aus der Entstehungszeit und eine geschichtliche Einordnung. „Diese Gebäude sind bauliche Zeitzeugen“, erklärt mir Katrin Keßler.

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Den Braunschweiger Hauptbahnhof finden viele Betrachter nicht schön. Foto: BSM

Beim Braunschweiger Hauptbahnhof zum Beispiel, der gleich zu Beginn der Ausstellung zu sehen ist, kann ich auch einen alten Fahrkartenautomaten, Fotos und Werbeplakate bestaunen. Eigentlich fand ich das Bahnhofsgebäude immer grässlich. Als ich mir aber ein altes Foto des Innenraums ansehe, bin ich überrascht wie edel und modern die Halle einmal wirkte – vielleicht, weil es damals dort noch keine Geschäfte, Werbetafeln und Reklameaufsteller gab. Katrin Keßler erzählt, dass die Ausstellung die Besucher ermutigen solle, genauer hinzugucken. Sie zeigt, was die Menschen und damit auch den Baustil zu dieser Zeit geprägt hat.

Wohntrends der 60er

Im Schwarzen Berg finden sich die verschiedensten Wohnformen. Foto: BSM

Im Schwarzen Berg finden sich die verschiedensten Wohnformen. Foto: BSM

Wir gehen weiter, vorbei an der Landessparkasse und der Stadthalle, hinein in einen neuen Raum. Hier geht es vor allem um Wohnbau in den 60er Jahren. Gleich ins Auge fällt mir das große Bild eines Wohnblocks in Wolfsburg, den ich überraschenderweise überhaupt nicht hässlich finde. Im Gegenteil: Seine abwechslungsreiche Form und die vielen kleinen begrünten Balkone lassen ihn gemütlich wirken. „Dieser Bau ist spannend, denn die Wohnungen im Inneren sind alle unterschiedlich groß. Es gibt sowohl Einzimmerwohnung als auch Wohnungen für Familien“, erklärt mir die Expertin. Weiter geht es mit einer Fotografie eines Hochhauses aus dem Schwarzen Berg. „Wir haben diesen Stadtteil Braunschweigs ausgewählt, weil hier alle Wohnformen vertreten sind, vom Hochhaus bis hin zum Einfamilienhaus.“ Viele Gebäude sind dort dem Brutalismus zuzuordnen und wirken kalt und nüchtern. „Die meisten Bürger haben uns aber erzählt, dass sie sich wohlfühlen und gerne dort wohnen.“

Als besonderes Highlight wurde auch eine komplette Wohnung aus den 60er Jahren in der Ausstellung nachgebildet. „Dafür haben wir im Schwarzen Berg einen Aufruf gestartet und die Bürger um alte Relikte aus dieser Zeit gebeten. So haben wir eine komplett intakte Küchenzeile aus den 60ern zur Verfügung gestellt bekommen, die bis vor kurzem noch genutzt wurde“, erzählt Katrin Keßler begeistert. Auch ein Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer kann ich hier bewundern.

Damals modern heute retro: Die Einrichtung in den 60ern. Foto: BSM

Damals modern heute retro: Die Einrichtung in den 60ern. Foto: BSM

Von der Kirche bis zur Fabrik

Vom roten Bereich wechseln wir nun in den orangfarbenen, der im Jahr 1966 beginnt. Hier erwarten mich Kirchenbauten, wie die Stephanuskirche in Wolfsburg, die der berühmte Architekt Alvar Aalto entwarf oder die St.-Thomas-Kirche in Helmstedt, eine riesige Stahlbetonkonstruktion in Sichtbeton. Auch eine Schule und ein Fabrikgebäude, die Fertigungshallen des Braunschweiger Klavier- und Flügelbauers Grotrian-Steinweg, haben es in die Ausstellung geschafft. Sogar ein Architektenbüro aus den 70ern kann ich hier betreten und mir originale Zeichnungen von damaligen Architekturstudenten ansehen oder selber ein wenig entwerfen.

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Ein Modell der St.-Thomas-Kirche in Helmstedt. Foto: BSM

Alte Bekannte

Langsam nähern wir uns nun dem letzten Abschnitt, der von 1974 bis 1976 reicht. Hier wartet auch gleich ein sehr bekanntes Gebäude auf mich: der Affenfelsen. Der gigantische Studentenwohnbau, direkt neben der Technischen Universität ist für seine engen Einraum-Appartments bekannt. Vor wenigen Jahren wurde er jedoch saniert. „Wir haben für die Ausstellung aber eine ursprüngliche Wohnung im Affenfelsen nachempfunden, so wie sie damals extra entworfen wurde“, zeigt Katrin Keßler.

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So sah es früher in den kleinen Apartments im Affenfelsen aus. Foto: BSM

Als letztes sehen wir uns ein Gebäude an, das noch heute stark das Stadtbild von Braunschweig prägt: das ehemalige Kaufhaus Horten, heute wird es von Galeria Kaufhof genutzt. „Besonders berühmt sind hier die Horten-Kacheln, die tausendfach in der Fassade verbaut sind“, weiß Katrin Keßler. Ein Exemplar dieser Kacheln hängt auch in der Ausstellung. Wussten Sie, dass Ihre Form den Buchstaben H für Horten symbolisieren soll?

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Die berühmten Hortenkacheln, die noch heute die Fassade des Kaufhausbaus zieren. Foto: BSM

Sanieren oder Abreißen?

Nachdem ich nun alle Bauwerke gesehen habe, darf ich im letzten Raum der Ausstellung als Besucher mit einem farbigen Post-it meine Meinung zu ihnen äußern: Blau für Erhalten, Gelb für Verändern und Orange für Abreißen. Nach den vielen Einblicken hinter die grauen Betonfassaden hat sich meine Einstellung zu so manchem Bauwerk verändert – sie haben für mich an Wert gewonnen. Von Katrin Keßler erfahre ich, dass es nicht nur mir so geht: „Es gibt wahre Fanclubs dieser Gebäude, so wurde zum Beispiel die Initiative „Achtung modern!“ ins Leben gerufen, auf der diese Ausstellung beruht und das Deutsche Architekturmuseum hat die Kampagne #SOSBrutalism gestartet.“ Mittlerweile stehen schon sieben der 20 gezeigten Gebäude unter Denkmalschutz.

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Welches Gebäude sollte abgerissen werden, welches bleiben? Am Ende müssen sich die Besucher entscheiden. Foto: BSM

Haben Sie nun auch Lust bekommen, einen Blick hinter die Fassaden des Brutalismus zu werfen? Noch bis zum 7. Juli 2019 haben Sie die Chance dazu!

Informationen:

Braunschweigisches Landesmuseum
Burgplatz 1
38100 Braunschweig

Öffnungszeiten:

Dienstag bis Sonntag 10:00 bis 17:00 Uhr, jeden 1. Dienstag im Monat bis 20:00 Uhr
Montag geschlossen

Titelbild: Schön oder grausam? Das Gebäude des ehemaligen Kaufhauses Horten wird heute von Galeria Kaufhof genutzt.

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