Als hätten ihre Eltern bereits geahnt, welche Charaktereigenschaft ihre Tochter später einmal auszeichnen sollte, gaben sie ihr den Namen Ricarda – die Entschlossene. Momentan komme ich an der Braunschweiger Schriftstellerin und Historikerin Ricarda Huch einfach nicht vorbei. Regelmäßig lese ich von ihr in der Zeitung, Zitate von ihr strahlen von Litfaßsäulen – Liebe ist das einzige, was nicht weniger wird, wenn wir es verschwenden. – und sie ist Teil der Ausstellung „frauenORTE Niedersachsen – Über 1000 Jahre Frauengeschichte“ im Foyer des Rathauses. Für eine 150-Jährige nicht schlecht.
Braunschweig, Juli 1864. Ricarda Huch wird am 18. Juli geboren. Ihr Vater ist ein bedeutender Kaufmann, so dass die Familie immer wieder umzieht. Da ihre Mutter nach der Niederkunft gesundheitlich geschwächt ist, beschließt man jedoch in der Löwenstadt zu bleiben und verweilt zunächst in Löbbeckes Villa am Inselwall 16. Ihre Kindheit und Jugend verbringt Ricarda in einem Wohnhaus am Hohetorwall 11, das heute nicht mehr steht. Ausgebildet wird sie auf der höheren Töchterschule in der heutigen Leonhardstraße 29. Mit 19 Jahren verliebt sie sich 1883 in Richard Huch, ihren Vetter und Ehemann ihrer Schwester Lilly. Der erwidert ihre Gefühle zwar, bliebt jedoch bei seiner Frau. Im selben Jahr verstirbt auch ihre Mutter, ihr Vater ist auf Grund seines Berufs permanent unterwegs, da gibt es für sie nur einen Ausweg – weg, ganz weit weg! Ricarda zieht es in die Schweiz, wo Frauen bereits studieren dürfen. Sie nimmt an der Universität in Zürich das Studium der Geschichte, Philosophie und Philologie auf, das sie 1891 als eine der ersten deutschen Frauen mit Promotion abschließt. Im gleichen Jahr veröffentlicht sie unter dem Pseudonym Richard Hugo ihren ersten Lyrikband „Gedichte“.
Braunschweig, Juli 2014. Ich betrete die Vorhalle des Rathauses und das kühle alte Gemäuer umarmt meinen aufgeheizten Körper. Ein Hinweisschild der Ausstellung „frauenORTE Niedersachsen“ war von außen nicht zu sehen. Ich luke um die Ecke und entdecke in einem Seitenflügel einige menschengroße Roll-Ups. Insgesamt 20 Frauenpersönlichkeiten aus dem 18. bis 20. Jahrhundert werden auf je einem Banner vorgestellt und sind Kategorien zugeordnet: „Eroberinnen des politischen Terrains“, „Pionierinnen in Bildung und Beruf“, „Akteurinnen zwischen den Konfessionen“ und „Schöpferinnen von Kunst und Kultur“. Die Gestaltung ist schlicht. Neben Name, Stadt und einem kurzen biografischen Abriss ist in Kopfgröße und -höhe ein Porträt positioniert. Ricarda Huch ist hier eine von denen, die für ihre Zeit und darüber hinaus Großartiges geleistet haben. Viele haben ihr eigenes Leben zurückgestellt und sich für eine Sache hingegeben, an die sie fest geglaubt haben.
Allen gemein ist, dass sie sich Widerständen in Form von Konventionen, Personen, Hierarchien, dem Gros der bürgerlichen Meinung entgegen gestellt haben und ungeheuren Mut bewiesen. Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg übernahm zum Beispiel nach dem Tod ihres Mannes die vormundschaftliche Regierung für den minderjährigen Sohn und führte neben zahlreichen Reformationen 1542 als erste und wohl einzig bekannte Frau im 16. Jahrhundert die Lehre Martin Luthers im Fürstentum ein. Ich erfahre, dass Mary Wigman in den 1910er Jahren das Korsett des klassischen Balletts überwand und Wegbereiterin des expressiven Ausdruckstanzes wurde. Die gebürtige Hannoveranerin hieß eigentlich Marie Wiegmann und machte die neue Tanzform als „New German Dance“ international bekannt. Die 28-jährige Eleonore Prochaska wollte unbedingt Soldatin werden, verkleidete sich 1813 als Mann und schleuste sich unter dem Namen August Renz in das 1. Bataillon des Lützowschen Freikorps ein. Sie wurde in der Schlacht bei Göhrde schwer verletzt und starb an den Folgen in Dannenberg. Während ich mich an die kühle Wand lehne, denke ich kurz darüber nach, was ich bisher in meinem Leben so erreicht habe …
Braunschweig Juli 1907. 24 Jahre nachdem sich Ricarda Huch in Richard verliebte, heiraten beide schließlich doch noch und sie zieht mit ihm zurück nach Braunschweig. Es ist bereits ihre zweite Ehe. Aus der ersten, 1906 geschiedenen, mit dem italienischen Zahnarzt Ermanno Cecconi nimmt sie eine Tochter mit. Während dieser Zeit beginnt Ricarda ihr dreibändiges Werk „Der große Krieg in Deutschland“, eine historische Darstellung des Dreißigjährigen Kriegs.
Doch die romantischen Vorstellungen über eine Zweisamkeit lösen sich in der Realität nicht ein. Ricarda und Richard trennen sich 1910 und sie verläßt die Löwenstadt. 1926 wird Ricarda Huch als erste Frau in die neu geründete Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste berufen, aus der sie 1933 als erstes Mitglied aus Protest gegen das nationalsozialistische Wirken austritt. 1944 veröffentlicht sie ihren letzten Gedichtband „Herbstfeuer“ mit lyrischen Werken seit 1930.
Braunschweig, Juli 2014. „frauenORTE Niedersachsen – Über 100 Jahre Frauengeschichte“ ist als Wanderausstellung konzipiert. Bis zum 1. August ist sie noch in der Löwenstadt zu sehen, danach zieht sie weiter. Aber ist der seitliche Aufgang des Foyers der richtige Ort, um sie auszustellen? Immer wieder rauschen Menschen beschäftigt den Hauptaufgang zur ersten Etage hoch, ohne bewusst wahrzunehmen, dass da etwas steht. Verständlicherweise, muss man sagen, schließlich kommen die meisten ins Rathaus, um ein Anliegen zu erledigen. Und die Frauen-Banner stehen aufrecht da. Genauso wie vermutlich die Frauenpersönlichkeiten zu ihrer Zeit, denke ich. Ich glaube, auf einmal emotional nachvollziehen zu können, was damals vielleicht vor sich gegangen sein mag. Etwas, was der geschickteste Erklärungstext mit Worten nicht ausdrücken kann. Ich muss kurz lächeln, weil ich mich frage, ob das den anderen Besuchern wohl ähnlich geht.
Braunschweig, Juli 1944. Zu Ricardas 80. Geburtstag wird ihre alte Schule ihr zu Ehren in Ricarda-Huch-Schule umbenannt und die Stadt Braunschweig verleiht ihr den Wilhelm-Raabe-Preis. Als Dank verfasst sie die Schrift „Braunschweig in meiner Kinderzeit“. Sie beschäftigt sich zunehmend mit Antisemitismus und Antifaschismus und lässt ihre Gedanken in ihren Arbeiten zu den Geschwistern Scholl und der Münchner Weißen Rose einfließen. Im Oktober flieht sie in den westlichen Teil Deutschlands. Noch im gleichen Jahr stirbt Ricarda Huch am 17. November im Alter von 83 in Kronberg (damals Schönberg) im Taunus.
Braunschweig, Juli 2014. Die Ausstellung „frauenORTE Niedersachsen – Über 1000 Jahre Frauengeschichte“ ist keine allumfassende Museumsausstellung. Vielmehr ist sie ein Impulsgeber, um aufmerksam zu machen und anschließend weiterzulesen (die Stadtbibliothek im Residenzschloss ist nur einen Steinwurf entfernt). Darüber hinaus ist sie eingebunden in ein umfangreiches kulturelles Rahmenprogramm. Der Vorteil der übersichtlich gehaltenen Informationen ist, dass man während eines Einkaufsbummels einen Kurzbesuch einlegen kann ohne gleich ein eigenes Zeitfenster dafür einplanen zu müssen. Oder vielleicht einfach mal in der Mittagspause hingehen? Zum Schluss ein Zitat Ricarda Huchs: Glück ist etwas, was man geben kann, ohne es zu haben.
(Artikelbild: Stadtarchiv Braunschweig)
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