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Mehr als nur Theater

Zwölf Tage lang war Braunschweig fest in der Hand des Festival Theaterformen, zumindest der kulturelle Teil der Löwenstadt. Überall zierte das rote, leicht veränderte Theaterformen-Feuerwehrzeichen Straßen, Häuser, Fahnen und Veranstaltungsorte und ließ keinen Zweifel daran, dass das internationale Festival wieder da ist. Zwölf Tage, an denen 209 Schauspieler, Regisseure und Musiker aus der ganzen Welt zu Besuch in Braunschweig waren und uns Zuschauern fremde – und dann doch so vertraute – Geschichten erzählten. Zwölf Tage mit 98 Veranstaltungen und jede Menge neuen Eindrücken.

Alle zwei Jahre überrollen die Theaterformen regelrecht Braunschweig, im jährlichen Wechsel mit Hannover. Dann werden die Häuser des Staatstheaters, das LOT-Theater, das Gartenhaus Haeckel im Theaterpark und je nach Bedarf weitere Orte in der Stadt eingenommen, wie zum Beispiel das Kloster St. Aegidien und den Allgemeinen Konsumverein, wo der Künstler Hans-Peter Litscher noch bis zum 13. Juli 2014 durch die Ausstellung Goethes Zebra führt. Herzstück des Festival ist und bleibt aber das Festivalzentrum am Gartenhaus Haeckel. Hier entsteht alle zwei Jahre ein place to be, eine Art Pop-Up-Bar, wo sich Künstler und Publikum treffen, essen, trinken, ins Gespräch kommen.

Auch die Konzertreihe "Fick dich ins Knie, Melancholie" des Staatstheaters hatte ein Gastspiel auf der Festivalbühne im Theaterpark. Foto: BSM / Daniel Möller

Auch die Konzertreihe „Fick dich ins Knie, Melancholie“ des Staatstheaters hatte ein Gastspiel auf der Festivalbühne im Theaterpark. Foto: BSM / Daniel Möller

Auf der kleinen Festivalbühne spielten dieses Jahr Die Höchste Eisenbahn, Jacques Palminger, Erobique, Automat, Howe Gelb und Erdmöbel wunderbare Konzerte – von der Dämmerung bis die ersten Sterne durch die Wolkendecke blitzten. An den konzertfreien Abenden verwandelte sich das Festivalzentrum dann zum Fußballschauplatz: Einige hundert Zuschauer guckten gemeinsam die Übertragung ausgewählter Spiele der Fußballweltmeisterschaft. Insgesamt besuchten laut Veranstalter rund 6.000 Gäste das Rahmenprogramm und sorgten für ausgelassene Stimmung. 

 

Unter Sternenhimmel, Lichter- und Wimpelketten lauschte das Publikum der Musik. Foto: BSM / Daniel Möller

Unter Sternenhimmel, Lichter- und Wimpelketten lauschte das Publikum der Musik. Foto: BSM / Daniel Möller

Denn mehr noch als in den Theatersälen wird im Gartenhaus Haeckel das Gefühl, an einem Festival teilzunehmen, erlebbar. Angefangen beim entspannten und altersmäßig gut durchmischten Publikum über kostenlose Konzerte, erfrischende Getränke und leckeren Speisen bis zu der zauberhaften Dekoration des Gartenhaus Haeckel und des Gartens mit Lichterketten in Baumwipfeln, den roten Wimpelketten und Strandliegen: Die Theaterformen entfalten erst hier im Theaterpark das richtige Festivalgefühl. Weshalb das Gartenhaus Haeckel auch mein Lieblingsplatz ist. Den muss – oder in diesem Fall durfte – ich mir mit vielen anderen teilen, auch mit Anja Dirks, der Leiterin des Festivals. Sie antwortete mir  auf die Frage, wo sie während des Festivals am liebsten ist:

„Ganz klar im Gartenhaus Haeckel. Dass wir diesen Ort immer wieder als Festivalzentrum nutzen konnten, war ein großer Glücksfall. Ich mag es sehr, wie sich dort ganz verschiedene Arten von Publikum vermischen. Und die Stimmung ist an diesem wirklich wunderschönen Ort immer sehr besonders.“

Bereits sechs Ausgaben der Theaterformen leitete Anja Dirks, drei davon in Braunschweig. Ich habe sie gefragt, worauf sie sich am meisten freut, auf die vielen Premieren (von den 18 Produktionen waren drei Uraufführungen und sieben deutsche Erstaufführungen) oder auf den Moment, wenn der letzte Künstler abgereist und das Projektbüro geräumt ist.

„Natürlich ist die schönst Zeit die, die während das Festival stattfindet. Zwar ist man in dieser Zeit immer übermüdet und in Eile, andererseits entstehen so viele wunderbare Begegnungen, das belohnt für all die Mühe. Am meisten freue ich mich immer, wenn all die großartigen Künstler, die wir eingeladen haben, tatsächlich hier in Braunschweig ankommen.“

Tatsächlich ist für mich das Besondere an dem Festival, dass die Künstler so nahbar sind. Während der zwei Wochen sah man sie in kleinen Gruppen oder allein die Stadt erkunden, als untrügliches Erkennungszeichen um den Hals hängend die roten Festival-Pässe. Während der Vorstellungen sitzen im Publikum Schauspieler aus anderen Kompanien, die sich die Stücke der Konkurrenz anschauen, abends trifft man sie vereint und diskutierend im Festivalzentrum.

Und man sieht die Schauspielder natürlich in den Theaterstücken, von denen noch gar keine Rede war. Ich habe mir neben Goethes Zebra (über das ich hier berichtet habe) noch das Eröffnungsstück Macbeth, Unsere Geheimnisse und Das Jahr, in dem ich geboren wurde angeschaut. Besonders beeindruckt haben mich die chilenischen Schauspielerinnen und Schauspieler aus Das Jahr, in dem ich geboren wurde. Sie folgten einem Aufruf der Regisseurin Lola Arias, die Chilenen suchte, die während der Diktatur Augusto Pinochets geboren wurden. Gemeinsam rekonstruieren sie im Stück die Geschichten ihrer Eltern und reflektieren gleichzeitig, wie sie dem alten Regime und der heutigen Politik gegenüberstehen. Ergreifend die Szene, in der eine Schauspielerin davon erzählt, wie sie durch die Aufführungen in Chile herausfand, dass ihr Vater nicht wie geglaubt tot sei, sondern noch sechs Jahre in einem Gefängnis einsitzt. Ihre Mutter allerdings hat aufgrund des Theaterstücks den Konakt zu ihr abgebrochen.

Szene aus Macbeth, Foto: Nicky Newman

Szene aus Macbeth, Foto: Nicky Newman

Dieses Stück zeigte mir noch einmal deutlich, was andere Stücke auch transportieren: Natürlich ist das, was gezeigt wurde, artifiziert und inszeniert, aber dennoch ist es ein Abbild des realen Lebens. Alle Stücke suchen nach Identität und fragten danach, wie Vergangenes in eine positive Zukunft gelenkt werden kann. So auch das Eröffnungsstück Macbeth. Brett Baileys Inszenierung überträgt Shakespears Stück auf die heutige Situation im Kongo. Auf der Bühne spielen die Schauspieler von Third World Bunfigth literarische Figuren und können doch immer auch einen persönlichen Bezug zum Gespielten ziehen. Überhaupt hat mich Baileys karges Bühnenbild begeistert – oder besser gesagt mitgenommen. Denn anders als üblich, saß das Publikum nicht in den gemütlichen roten Theatersesseln, sondern wurde auf eine im hinteren Bühnenraum aufgebaute steile Holztribüne geschickt. So waren wir ganz nah dran am Geschehen auf der Bühne, saßen dem Stück entsprechend aber auch 100 Minuten recht unbequem. Ob gewollt oder nicht, so hat mich das Stück nicht nur geistig sondern auch körperlich geprägt.

Insgesamt zeigte das Festival-Programm die ganze Bandbreite des Erzählens auf der Bühne: Vladislav Nastavševs räumte für die herausragenden Darsteller von Dunkle Alleen alles leer, Miet Warlop ließ in Mystery Magnet Farbtöpfe explodieren. In Please, Continue (Hamlet) wurde auf der Bühne sogar ein realer Gerichtsfall von Braunschweiger Richter, Staatsanwälten Verteidiger und den Zuschauern verhandelt, der dem Klassiker von Shakespeare verblüffend ähnelte. Durch diese Vielseitigkeit und den Mut, jungen Regisseuren und Künstlern eine Plattform zu bieten, sind die Theaterformen nach wie vor éin Seismograf für Trends und Entwicklungen in internationalen Produktionen. Nachgefragt, was das Festival für Anja Dirks besonders macht, antwortet sie:

Jedes Festival ist immer wieder ein einzigartiges Gesamtkunstwerk, und zahllose Einzelheiten müssen stimmen, damit alles passt. Theaterformen ist durch zwei Dinge ein besonderes Festival: durch sein sehr herzliches und aufgeschlossenes Publikum – diese Rückmeldung bekomme ich von zum Teil weit gereisten Künstlern immer wieder – und durch die Mitarbeiter des Staatstheaters und unser Team, die alles tun, um sehr sorgfältige und warmherzige Gastgeber zu sein.

Eine warmherzige Gastgeberin ist auch Anja Dirks, die die Theaterformen mit Ende der diejährigen Ausgabe verlassen und sich neuen Aufgaben widmen wird. Sie wird in guter Erinnerung bleiben, hat sie doch das Festival zu einem der bedeutendsten Theaterfestivals in Deutschland vorangetrieben.

(Artikelfoto: David Alarco)

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