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Fotografie ist ein Bleistift der Natur

Sicher haben Sie dieses Bild auch schon wahrgenommen: Zwei Menschen sitzen auf Holzstühlen, eine Art Lampenschirm auf ihrem Kopf, im Hintergrund merkwürdige Instrumente. Das Foto ist schwarz/weiß und oben stark überbelichtet. Es ist plakatiert neben dem Museum für Photographie an der Helmstedter Straße 1. Diese Fotografie erzählt eine Geschichte, nur weiß man nicht genau welche. In meinem Kopf suche ich gleich nach der passenden Erzählung – habe ich dieses Bild schon einmal im Zusammenhang mit Berichten über eine Sekte gesehen? Oder ist das eine futuristische Vorstellung aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts?

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Plakatierung am Photomuseum: General (whole body) phototherapy on child patients wearing masks to protect their eyes, Finsen Medical Light Institute, 1920-1930

Die Beschriftung verrät es dann: General (whole body) phototherapy on child patients wearing masks to protect their eyes, Finsen Medical Light Institute, 1920-1930. Es ist die Fotografie einer medizinischen Behandlung. Davon habe ich nun wirklich noch nicht gehört. Der Zusammenhang mit einer Sekte scheint mir dennoch plausibler. Diese mystische Stimmung dieses Bildes hat Nicolai Howalt fasziniert. Nach Aufspüren des Bildes hat er sich thematisch mit der Geschichte seiner Entstehung auseinandergesetzt. Seine Aufarbeitung ist bis zum 12. Juli 2015 in der Ausstellung Light Break zu sehen.

Was passiert da eigentlich auf dem Bild? Wie funktionierte die Lichttherapie Anfang des 20. Jahrhunderts? Wem wird da geholfen und was wird therapiert? Ausgangspunkt ist der dänische Arzt Niels Ryberg Finsen, der eine Therapie gegen Lupus vulgaris (Gesichtstuberkulose) entwickelte. Finsen experimentierte mit Licht- und UV-Strahlen und fand heraus, dass die unsichtbaren Lichtstrahlen im Randbereich des elektromagnetischen Spektrums heilende Eigenschaften besaßen. Mithilfe von Linsen und Quarzglas wurde das Licht in seine einzelnen Farbspektren gestreut, bestimmte Lichtwellen absorbiert und nur die „guten“ Lichtwellen durchgelassen. Dafür bekam er 1903 übrigens den Nobelpreis für Physiologie und Medizin verleihen. Howalt wollte diese unsichtbaren Lichtstrahlen sichtbar machen und nutzte dabei die Fähigkeit, Negative mithilfe von Sonnenlicht zu färben. Um das Licht zu bündeln benutzte er Finsens Instrumente, die ihm vom Medizinischen Museum in Kopenhagen für seine Experimente zur Verfügung gestellt wurden.

Mit denselben Instrumenten, mit denen Finsen damals Menschen heilte, macht Nicolai Howalt heute Kunst. Howalt wiederholt die Experimente des Arztes, statt aber das Licht auf die Erkrankten zu lenken, lenkt Howalt es auf Fotopapier. Die medizinischen Instrumente werden im übertragenen Sinn zu Pinsel (oder Bleistift) und Farbe. Allein das birgt genügend Stoff zum Nachdenken. Aber da ist noch mehr: Howalt stellt seine Light Break-Bilder in der Ausstellung in einen besonderen Kontext, die Ausstellung gliedert sich in drei Ebenen.

Archivbilder aus dem Medizinischen Museum in Kopenhagen, ausgewählt von Nicolai Howalt. Foto: BSM

Archivbilder aus dem Medizinischen Museum in Kopenhagen, ausgewählt von Nicolai Howalt. Foto: BSM

Zuerst sind da die Archivbilder des Medizinischen Museums, die Howalt ausgewählt hat und hier präsentiert. Zu sehen sind Portraitfotos von Erkrankten aus dem Jahr 1898. Die Männer und Frauen haben sich schick gemacht, tragen ihre beste Kleidung und Schmuck. Ich finde das eigenartig, schließlich hatten die Fotos ursprünglich keinen ästhetischen sondern einen dokumentarischen Zweck. Für die Menschen Ende des 19. Jahrhunderts war eine Fotografie aber ebenso etwas Mystisches wie die Lichttherapie, der sie sich im Anschluss unterzogen. Und nicht zu wissen, was mit mir oder der Fotografie passiert, wenn sie erstmal gemacht ist – da hätte ich mich auch im besten Licht präsentieren wollen.

Eine Linse, die Finsen für seine Experimente nutze, inszeniert von Nicoali Howalt. Foto: BSM

Eine Linse, die Finsen für seine Experimente nutze, inszeniert von Nicoali Howalt. Foto: BSM

Als zweite Ebene sind die Geräte, mit denen Finsen – und Howalt – seine Experimente zur Lichttherapie machte, inszeniert. Die Abbildungen der Instrumente sind, aus ihrem Kontext herausgenommen, sehr dunkel und magisch. Howalt überführt sie durch die Inszenierung vom Medizinischen ins Ästhetische, vergrößert sie oder stellt nur bestimmte Seiten heraus. Er rückt dadurch die Instrumente in ein besonderes Licht, ähnlich wie die Portraitierten sich selbst herausgeputzt haben, und schlägt dadurch neben der inhaltlichen auch eine gestalterische Brücke zwischen den Ebenen.

Die dritte und letzte Ebene zeigt nun das eigentliche Projekt „Light Break“. Howalt präsentiert hier Fotopapier, das durch infrarote und ultraviolette Strahlen direkt von der Sonne belichtet wurden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Fotografien gibt es kein Negativ – also auch kein Reprodukt. Um das Fotopapier zu belichten, hat Howalt Fotopapier in seinen Fotoapparat gespannt, davor die Linsen von Finsen gesetzt und mit unterschiedlichen Filtern experimentiert.

Zu sehen sind farbenfrohe Bilder, gegenstandslos, was für die Fotografie ungewöhnlich ist. Manchmal meint man Wolken zu erkennen – oder ist es Rauch? Auf anderen Bildern sind Silhouetten von Häusern oder Straßenschluchten zu erahnen. Meistens aber sind „nur“ Farbverläufe zu sehen, die an die Color Field Malerei der 1950er-Jahre erinnern.

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Aus der Arbeit Light Break von Nicolai Howalt. Foto: BSM

In gewisser Weise macht Howalt durch sein Experiment die unsichtbaren Lichtstrahlen sichtbar. Und doch ist das Licht nicht zu fassen: Je länger ich die Bilder betrachte und je mehr Bilder ich sehe, desto weniger greifbar wird das Licht. Ich sehe das Licht, das sich auf das Fotopapier eingebrannt hat, und dennoch bleibt es mystisch.

Warum haben sich immer nur bestimmte Lichtwellen, wie beispielsweise die Lichtwellen 644 bis 0 nm, auf ein Fotopapier gebrannt und nicht das gesamte Lichtspektrum? Sind die Bilder Zufallsprodukte oder wusste Howalt, wie er die Instrumente und Filter ausrichten musste, damit bestimmte Farbverläufe entstehen? Die Ausstellung gibt keine eindeutigen Antworten, jedoch findet der Besucher Antwortmöglichkeiten zwischen den Zeilen.

Informationen

Museum für Photographie Braunschweig e.V.
Helmstedter Straße 1, 38102 Braunschweig

Öffnungszeiten: Di – Fr 13 – 18 Uhr, Sa + So 11 – 18 Uhr

Eintrittspreise: Regulär: 2,50 €. Ermäßigt: 1,00€
Ermäßigten Eintritt erhalten Schüler, Studierende, Auszubildende, Erwerbslose, Menschen mit Behinderung, Rentner sowie Inhaber des „Braunschweig-Passes“.

Das Museum für Photographie bietet ein umfangreiches Begleitprogramm zur Ausstellung an.

Aus der Arbeit Light Break von Nicolai Howalt. Foto: BSM

Statement von Nicolai Howalt. Foto: BSM

(Artikelbild: Fotografien aus der Arbeit Light Break von Nicolai Howalt. Foto: BSM)

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