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Bunker, Backstein, Warenhaus

12. April 2015, 15 Uhr – Es ist Sonntag. Die Sonne scheint. Ich habe ausgeschlafen und auf der Terrasse gefrühstückt. Jetzt stehe ich mit circa 35 weiteren Personen in einem Halbkreis vor dem Haus der Wissenschaft. Unter ihnen sind junge Pärchen und ältere Menschen. Manche tragen Sonnenbrillen, einige haben ihr Fahrrad dabei. Wir sind hierhergekommen, um an einer besonderen Stadttour des Friedenszentrums Braunschweig e. V. und des Arbeitskreises Andere Geschichte e. V. teilzunehmen. 70 Jahre ist es her, dass die NS-Terrorherrschaft endete. Heute besuchen wir Orte in Braunschweig, die einst im Nationalsozialismus eine wichtige Rolle spielten.

Garnisonsfriedhof / neuer Katharinenfriedhof, im Hintergrund das Haus der Wissenschaft. Foto: BSM

Neuer Katharinenfriedhof/Garnisonsfriedhof, im Hintergrund das Haus der Wissenschaft. Foto: BSM

Haus der Wissenschaft, Pockelsstraße 11: damals Bernhard-Rust-Hochschule
Der 1937 als Hochschule für Lehrerbildung eingeweihte Bau im Backsteinexpressionismus ist der einzige dieser Art in Braunschweig. Inspiriert ist er von norddeutschen Sakralbauten mit Anklängen an das Mittelalter. Der spitz zulaufende Giebel steht symbolisch für die Volksgemeinschaft, in die man sich einordnen sollte. Nicht zu vergessen: ein Erscheinungsbalkon Richtung Innenhof, falls der Führer einmal vorbeischaute. Als Voraussetzung für eine Aufnahme galt unter anderem körperliche Gesundheit und der „Ariernachweis“. Aus Mangel an männlichen Bewerbungen, mussten auch Frauen angenommen werden. Ein Raunen geht durch die bis dato ruhigen Reihen, ein kleines „Pft“ entweicht mir durch die Lippen.

Neuer Katharinenfriedhof / Garnisonsfriedhof
Einmal über die Straße, schon sind wir da. Der kleine Friedhof ist mir vorher nie aufgefallen. Hier liegen unter anderem Deserteure, die auf Geheiß Hitlers hin in der JVA Wolfenbüttel und in der Buchhorst in Riddagshausen hingerichtet wurden. Auf ihren Gräbern stehen oft keine Namen, nur die Inschrift: Unbekannter Soldat. Die Grabsteine sollten absichtlich schweigen, vermutlich um ein Populärwerden des Desertierens zu verhindern.

Der Luftschutzbunker Kaiserstraße war einer von 24 in Braunschweig. Foto: BSM

Der Luftschutzbunker Kaiserstraße war einer von 24 in Braunschweig. Foto: BSM

Luftschutzbunker, Kaiserstraße
Von französischen Kriegsgefangenen Anfang der vierziger Jahre gebaut, mit Platz für 642 Menschen. Die Planer von Hochbunkern wie diesem veranlassten oft eine optische Anpassung an das Stadtbild, damit die Gebäude bei einem Angriff nicht als solche aus der Luft zu erkennen waren, was hier jedoch aufgrund eines Mangel an Arbeitskräften und Material nicht zum Abschluss kam. Nach Kriegsende bewohnten Flüchtlinge das Gebäude illegal – keine Fenster, Sauerstoff- und Lichtmangel, ständige Feuchtigkeit, Kälte. Es zieht zwischen den Häusern, ich schließe den Reißverschluss meiner Jacke. 1960 wurde der Bunker wegen Seuchengefahr geschlossen. Heute ist er eine Einrichtung des Braunschweiger Katastrophenschutzes.

Alte Waage
Ein altes Lied ertönt aus einem kleinen Radiogerät. Frohe Kinderstimmen im Chor: Deutschland über alles, nur wer kämpft, hat Lebensrecht. Wir sollen in einer Reihe antreten. Die Gruppe bleibt stehen, ich blicke einem jungen bärtigen Mann fragend in die Augen. Seine Schultern zucken leicht nach oben. Die Hitlerjugend stand hier in Reih‘ und Glied. 1939 wurde die Alte Waage als Hitler-Jugend-Heim umfunktioniert. Ein Zeitzeuge erzählt von Heimatabenden, bei denen „sie die jungen Leute hinter dem Samtvorhang vergifteten“ und meint damit das vehemente Einwirken auf die Jugend mittels nationalsozialistischer Propaganda. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude zerstört und 1991 wieder nach Vorbild der mittelalterlichen Waage aufgebaut. Heute dient sie der Volkshochschule Braunschweig als Verwaltungs- und Seminargebäude.

Auch am Altgebäude der TU kamen wir vorbei. Gravur der Gedenkplatte davor: In Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus an unserer Hochschule - diskriminiert, entlassen, vertrieben, verfolgt, ermordet. Foto: BSM

Auch am Altgebäude der TU kamen wir vorbei. Gravur der Gedenkplatte davor: In Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus an unserer Hochschule – diskriminiert, entlassen, vertrieben, verfolgt, ermordet. Foto: BSM

Schuhstraße
Dort, wo heute die große Leuchtreklame eines Bekleidungsgeschäfts prangt, stand 1907 Braunschweigs erstes Warenhaus, geführt vom jüdischen Geschäftsmann Adolf Frank. Die Topadresse für Haus-, Küchengeräte und Spielwaren. Bis zum Warenhaussturm 1933. Eingeschlagene Schaufensterscheiben, zerstörte Warenauslagen, vorübergehend geschlossen. Wenige Tage später setzte die „Arisierung“ ein, jetzt hieß das Warenhaus Stöber, die Familie Frank emigrierte 1938 in die USA.

Ich bin ein wenig überrascht. Ich habe erwartet, nach der Führung von Traurigkeit erfüllt zu sein. Niedergeschlagen über die Dinge, die passiert sind. So wie nach der Tagesschau, die mir vom Krieg und Leid in der Welt berichtet. Aber die Referenten erzählen lebendig und sprechen offen und deutlich an, was war, ohne jedoch reißerisch ins Boulevardeske abzudriften. Die Tour anlässlich des Jahrestags der Befreiung von der NS-Terrorherrschaft findet jedes Jahr am 12. April statt, wobei die Route variiert. Wenn Sie mehr über markante Punkte zur Zeit des Nationalsozialismus erfahren wollen, empfehle ich Ihnen das Internetprojekt „Vernetztes Gedächtnis – Topografie der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Braunschweig“.

(Artikelfoto: BSM)

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