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Der perfekte Plan B

Till Raether ist Schriftsteller, wuchs in Berlin auf, ging auf die Journalistenschule in München, studierte in New Orleans und lebt nun seit fast 20 Jahren in Hamburg. Sein ganzes Leben glaubte Raether, er gehöre in die Großstadt. Für die Braunschweig-Ausgabe des Reisemagazins MERIAN besuchte er die Löwenstadt und merkt, dass die Stadt alles hat, was er braucht. Hier veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung des Magazins MERIAN den Artikel erneut.

Es gibt Reiseziele, die das Leben verändern. Indien wird in diesem Zusammenhang oft genannt. Wegen seiner Kontraste, seiner Schönheit, seiner Spiritualität. Oder Florenz, wegen der erschütternden Vielfalt kultureller Reize. New York, wegen der Energie, und weil man es, wenn man es da schafft, überall schafft (siehe Frank Sinatra). Eher selten fällt in diesem Zusammenhang der Name Braunschweig. Was ein Fehler ist. Denn Braunschweig zwingt einen, sich selbst infrage zu stellen. Braunschweig krempelt einen um. Zum Beispiel, wenn man auf der Aussichtsplattform des Braunschweiger Schlosses steht oder besser gesagt: auf dem 2007 wieder aufgebauten Schloss. Dahinter befindet sich ein großes Einkaufszentrum namens »Schloss-Arkaden«. Man guckt Richtung Osten erstmal auf die Parkdecks 3 und 4, aber wenn man den Blick darüber hinweggleiten lässt, ist da die sanfte grüne Hügellandschaft des Prinzenparks, sind da die verheißungsvoll glänzenden Kuppeln des Herzog Anton Ulrich-Museums, das Staatstheater, ein architektonisch reich verzierter Wasserturm im Gründerzeitstil, in dessen kleinen Fenstern sich knallrot die Abendsonne spiegelt, und weiter Richtung Süden hinter der Wolters-Brauerei ein nach oben geschwungenes Harz-Panorama mit Brocken-Krönung. Direkt über einem steht Braunschweigs Schutzgöttin Brunonia auf ihrem Streitwagen mit vier Pferden. Braunschweig hat einige Rekorde, von denen man nicht wusste, dass es sie gibt, bis man nach Braunschweig kam. Das erste Fußballspiel auf deutschem Boden, die genaueste optische Einzelionen-Uhr der Welt, das älteste erhaltene Doppelgrabmal eines Ehepaares auf deutschem Boden, den größten kirchlichen Friedhof Deutschlands. Und dies hier ist die größte Quadriga mit nur einer Lenkerinfigur Europas. Das heißt, man steht unter medizinballgroßen Pferdehoden, blickt auf Braunschweig und fragt sich: Könnte ich hier leben?

Foto: Lukas Spörl/MERIAN

Von der Quadriga-Plattform aus verschafft sich Till Raether einen Überblick über die Stadt. Foto: Lukas Spörl/MERIAN

Wenn man selbst aus einer Stadt kommt, ist jede Städtereise wie das innerliche Anprobieren eines anderen Lebens. Man irrt durch London oder Rom, nennt es flanieren und fragt sich: Wäre hier Platz für mich? Wäre ich ein anderer Mensch in der Gelehrsamkeit von Boston oder auf den Ramblas von Barcelona? Ich halte mich für einen Großstadtmenschen, aber, dies vorweg, seitdem ich in Braunschweig war, frage ich mich, ob wir alle, die wir uns für ein oft überteuertes, oft beengtes, oft stressiges Leben in einer Millionenstadt entschieden haben, uns nicht was einreden, wenn wir sagen: Ich bin halt ein Großstadtmensch. Braunschweig fragt auf ganz geschickte, beiläufige Weise: Spinnt Ihr eigentlich, Ihr so genannten Großstadtmenschen? Obwohl, Braunschweig fragt anders. Braunschweig gilt zwar als abweisend, und die Braunschweiger stehen im Ruf, übellaunig zu sein. Aber das stimmt gar nicht. Stell dich mit einem Stadtplan aus Papier an eine Ecke in Braunschweig, und du wirst merken, wie nett die Braunschweiger sind. Aus allen Himmelsrichtungen kommen sie, um dir den Weg in ihre Stadt zu weisen. Darum stellt Braunschweig auch existenzielle Fragen netter. Geschickter. Braunschweig fragt: Was brauchst du eigentlich? Die Oker wispert diese Frage, wenn sie gelassen am Südsee vorbeifließt, wenn man dort im herrlichen kleinen Lokal vom »Segler-Verein Braunschweig e. V.« auf der Terrasse sitzt; die Bäume rauschen sie im Park am Schloss Richmond, vor etwa 250 Jahren gebaut für eine heimwehkranke englische Prinzessin; und vor allem hört man sie spät am Abend die Schritte auf dem Kopfsteinpflaster im Magniviertel wispern, wenn man einen Mumme-Braten im Bauch und den nächsten warmen Lichtkegel mit Bierreklame vor Augen hat. Was brauchst du eigentlich?

Foto: Lukas Spörl/MERIAN

Der Magnikirchplatz. Foto: Lukas Spörl/MERIAN

Vor einiger Zeit las ich im Immobilienteil einer großen Tageszeitung, dass die Büromieten in sogenannten B-Städten steigen. Das Wort hatte ich noch nie gehört, es fiel mir auf, weil Braunschweig als Beispiel einer »B-Stadt« genannt wurde. Als B-Stadt gelten im Immobilienjargon größere Städte (Braunschweig hat eine Viertelmillion Einwohner), die nicht zu den »Top-7-Standorten« gehören, also Berlin, Hamburg, München, Köln, Stuttgart, Frankfurt und Düsseldorf. B-Stadt finde ich eigentlich ein schönes Wort: Es klingt ein bisschen nach B-Movie, also unprätentiös, leicht zugänglich, lässig, unterhaltsam, aber auch nach der klassischen Vinyl-Schallplatte, Single oder LP, mit A- und B-Seite: Die eine ergänzt die andere. Ich habe mein Leben lang in A-Städten gelebt, und die A-Städte fragen immer: Was willst du? Sie machen einem lauter Angebote, die man immer besser ablehnen kann, je älter man wird. Was willst du? Mehr arbeiten, mehr feiern, mehr von allem, hört man sich sagen. Aber man kann die Platte auch umdrehen, und dann eben kommt die Frage: Was brauchst du eigentlich?

Foto: Lukas Spörl/MERIAN

Das Staatstheater Braunschweig. Foto: Lukas Spörl/MERIAN

Kultur ist ja immer so ein Maßstab dafür, was eine Stadt einem bieten kann. Ich gehe zwei oder dreimal im Jahr ins Theater, also brauche ich ein Theater. Eins. Nicht ein Dutzend. Ein Fünfsparten-Haus plus alle zwei Jahre ein internationales Theaterfestival, so wie hier: Mehr brauche ich eigentlich nicht, und wenn ich ehrlich bin, ist es mehr als genug. Ich brauche als Tourist eine Gegend in jeder Stadt, von der ich träumen kann, ich wäre ihr Bewohner. In Braunschweig wäre das nicht das feine fachwerkene Riddagshausen, sondern es wären die langen mit Linden bestandenen und Gründerzeitbauten gesäumten Straßen des Östlichen Ringgebiets mit ihren klassischen Eckläden. Ach, und wenn ich einen Wunsch freihätte, dann bräuchte ich einen Plattenladen, wo man noch abends um zehn mit einem Flaschenbier in der Hand – denn der Laden ist auch Café und Bar – in 80er-Jahre-Vinyl blättern kann, und es gibt »From Langley Park to Memphis« von Prefab Sprout für 13 Euro, und eigentlich wollen sie schon zumachen, aber die Kellnerin sagt: »Ja, mach ruhig, ich bin einfach zu nett.« Danke, »Riptide« am westlichen Rand der Altstadt.

Je älter ich werde, das gebe ich zu, desto mehr brauche ich vielleicht auch eine Stadt, die mir ein ganz klein wenig das Gefühl gibt, dass sie auf mich wartet. Meiner A-Stadt bin ich völlig egal. Braunschweig ist da aufmerksamer, zugewandter, und das merkt man besonders, wenn man, wie ich bei meinem letzten Besuch im Sommer, während der Werktage kommt. Braunschweig fühlt sich dann hin und wieder an, als würden die Kulissen und Komparsen fast »Truman Show«-artig immer extra speziell für einen selbst zurechtgeschoben und bereitgestellt, aber nicht auf unheimliche, sondern auf ganz unniedersächsisch charmante Weise. Unter der Woche zwischen 9:00 und 15:00 Uhr kann man zum Beispiel auf den Rathausturm, aber es ist kein touristischer oder gar offiziöser Vorgang, wie sonst gern in Rathäusern und ihren Türmen, sondern familiär, fast privat: Man meldet sich beim Pförtner, und der lässt einen persönlich rein, gern auch als Einzigen, wie mich am Montagvormittag. Da steht man dann, bewundert den Kirchturmreichtum der Stadt und denkt womöglich heiter: »So schönes Wetter, und – ich noch dabei.« Was im Übrigen ein Zitat aus dem Alterswerk des Braunschweiger Schriftstellers Wilhelm Raabe ist, dessen »Schwarze Galeere« mir zu Schulzeiten in der gelben Reclam-Ausgabe Tränen der Langeweile in die Augen trieb. Aber nun, an einem anderen Vormittag, gefällt mir die heitere, konzentrierte Stimmung im kleinen Raabe-Museum mit seinem Arbeitszimmer, nahe der Stadthalle. Wieder bin ich der einzige Besucher. Wie auch in der Klosterkirche Riddagshausen, wo der Küster extra kommt, um mir am Dienstagvormittag das Licht auszumachen: »Ohne Scheinwerfer sehen Sie ja viel besser, wie schön das Licht durch die Fenster fällt.« Und ich habe mich nirgendwo als Journalist angekündigt oder zu erkennen gegeben. Ich bin einfach jemand, bei dem Braunschweig sich freut, dass er da ist. Ich wusste nicht, dass ich das brauche, aber: Doch. Ich könnte mich daran gewöhnen.

Foto: Walter Schmitz/Merian

Klosterkirche und -garten in Riddagshausen. Foto: Walter Schmitz/MERIAN

Im Dom ist es auch so. Es gibt öffentliche Führungen, und als ich nachmittags hinkomme und frage, wo denn die Führung stattfindet, sagt der Herr von der Domführer-Gilde: »Da, wo Sie stehen. Wir beide sind die Führung.« Man muss dazu sagen, dass ich seit meiner ersten Klassenfahrt, die 1980 ins Harzvorland führte und deren Höhepunkte Stadtrallyes in Goslar, Hildesheim, Clausthal-Zellerfeld und eben auch Braunschweig waren, eine gewisse Abneigung gegen Kirchen- und Domführungen habe: zu viele Heilige, zu viele Fachbegriffe. Ich schlucke. Aber in den nächsten anderthalb Stunden merke ich, was ich noch brauche in einer Stadt. Geschichte ist das eine, aber Braunschweig hat Geschichten, und die brauche ich. Im Dom liegen Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern, und seine Frau Mathilde. Der Domführer Herr Engelke erzählt, wie begierig die Nazis waren, Heinrich zur arischen Symbolfigur zu machen, weil er im Hochmittelalter die deutsche Kolonisation unerschlossener Gebiete östlich der Elbe vorantrieb, und weil er ein Machtpolitiker war, der immer mehr Rechte und Ländereien anderer Adelsgeschlechter an sich reißen wollte. Sie hätten ihm die scheußliche Krypta hier unter dem Kirchenboden gebaut, aber als sie die Sarkophage von ihm und seiner Frau öffneten, hätten sie festgestellt, dass Heinrich der Löwe deutlich kleiner als seine Frau und ausgesprochen schwarzhaarig gewesen sein muss, woraufhin sie »den Deckel wieder zumachten« und das Interesse an ihm verloren. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber: eine gute Geschichte.

Foto: Lukas Spörl/MERIAN

2007 wurden das wiederaufgebaute Residenzschloss mit angegliedertem Einkaufszentrum eröffnet. Foto: Lukas Spörl/MERIAN

Und, wie gesagt, die Geschichte mit dem Schloss: 1960 wegen Baufälligkeit abgerissen, 2007 mit angegliedertem Einkaufszentrum wieder aufgebaut, jeweils nach sehr langen Konflikten und sehr knappen Ratsbeschlüssen. Anfangs wundere ich mich über dieses seltsame Gebilde zwischen Altstadt und Museumpark, aber nach ein paar Tagen meine ich, es zu verstehen. Es ist vielleicht so was wie Architektur gewordener Pragmatismus und Laissez-faire: Ohne Einkaufszentrum geht die Rechnung nicht auf, kriegen wir halt das Schloss mit Räumen für die Stadt, Museum, Archiv und Bibliothek und eine schön klimatisierte Mall, zack, warum eigentlich nicht. So etwas macht nur eine Stadt, die souverän genug ist, sich selbst und ihre jahrhundertealte Geschichte als herzögliche Residenz nicht allzu ernst nehmen zu müssen. Die souverän genug ist, fast acht Jahre lang das HAUM, kurz für Herzog Anton Ulrich-Museum, zu renovieren, ein Museum, das über das Land hinaus berühmt ist. Weil die Stadt ihr Selbstverständnis und ihr Selbstbewusstsein derweil aus anderen Dingen schöpfen kann. Zum Beispiel daraus, gebraucht zu werden. Während man beim Grauburgunder draußen vorm Lokal »Zu den 4 Linden« im Östlichen Ringgebiet sitzt, im Kajak auf der Oker die Stadt umrundet oder abends hört, wie in der Kirche St. Aegidien jemand auf der Orgel übt, kann es passieren, dass einem klar wird: Mehr brauche ich nicht, sondern genau das.

Die Braunschweig-Ausgabe des Reisemagazines MERIAN erschien im September 2016.Dieser Text ist zuerst erschienen in der Septemberausgabe des Reisemagazins MERIAN über Braunschweig. Das Heft ist in der Touristinfo, Kleine Burg 14 sowie im deutschsprachigen Bahnhofsbuchhandel und Zeitschriftenhandel, im Direktvertrieb in Deutschland, Österreich und der Schweiz für 8,95 Euro erhältlich.

 

 

(Titelbild: Lukas Spörl/MERIAN)

1 Comment

  • Manorainjan

    Antworten
    26.09.2016at12:48

    Deswegen bin ich, „Eingeborener“, nach einigen Jahren in diversen Städten, hier her zurück gekommen: Weil Braunschweig einfach alles hat, was man braucht und mehr. 🙂

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