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Ein Meer voller Inseln

Sechs Frauen, schwarz gekleidet, hintereinanderstehend, schauen in die Kamera. Das Bild wird nach hinten unscharf.

Wer hätte Anfang des Jahres gedacht, dass das Festival Theaterformen vom 2.-12. Juli 2020 stattfinden kann? Im Jubiläumsjahr sah alles danach aus, als falle das Festival einem internationalen Virus zum Opfer. Ausgerechnet! Wo die Theaterformen doch seit 30 Jahren internationales Theater nach Niedersachsen bringen. Doch außergewöhnliche Situationen sind fast schon Routine in der Geschichte des Festivals: Gleich die erste Ausgabe fand 1990 unter Umständen statt, die von den Initiatoren ganz anders gedacht waren.

Hatte man das Festival unter der Prämisse geplant, Hochkultur ins damalige Zonenrandgebiet zu bringen, lag Braunschweig nach dem Fall der Mauer im Herbst 1989 plötzlich mitten in Deutschland. Und ein weiterer Fall, nämlich der des Eisernen Vorhangs auf die Bühne des Großen Hauses im Staatstheater, führte dazu, dass 1995 die ersten Stücke des Festivals in Hannover stattfanden. Im Jahr 2020 nun bringt ein Virus die Welt durcheinander und das Festival Theaterformen wird als hybrides Veranstaltungsformat gedacht.

Vier Personen stehen in Havanna auf einem Gehweg und spielen Posaune.
Rimini Protokoll, deren Stück „Granma. Posaunen aus Havanna“ das Festival eröffnet hätte, bitten ihr kubanisches Ensemble, ihre Erfahrungen als Bewohner*innen eines langjährig isolierten Staates mit dem Publikum zu teilen – per Post, die in den heimischen Briefkasten geliefert wird. Foto: M. Gaestel

A Sea of Islands

Das Motto der diesjährigen Festivalausgabe „A Sea of Islands“ bekommt in Corona-Zeiten fast eine doppelte Bedeutung. Die Produktionen für das Festival beschäftigen sich allesamt mit Inseln der Welt – und rücken damit die vielschichtigen politischen Sonderfälle, geostrategischen Brennpunkte und Projektionsflächen für ein besseres Leben ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

A Sea of Island – damit können aber auch die Zuschauer*innen gemeint sein, die allein oder coronatauglich in kleinen Gruppen die Stücke rezipieren: vor dem Laptop in den eigenen vier Wänden oder an den Festivalorten, wo Installationen das Erleben unter Wahrung der Hygienevorschriften möglich machen. Ein Meer von Einzelnen, die das Festival Theaterformen gemeinsam und dennoch ganz individuell erleben.

Ein Bild von einer Welle in einem Lagerraum.
Die Installation Thirst, die einen Jahrhundertsturm vor den Färöer Inseln erfahrbar macht, ist von Voldemārs Jonhansons und wird wie geplant im Großen Haus des Staatstheaters Braunschweig gezeigt. Natürlich zu den geltenden Hygienebedingungen. Foto: M. Kolly

Das Theaterformen-Programm

Das diesjährige Programm des Festival Theaterformen ist dreigeteilt: Sie können es zu Hause, online oder vor Ort in Braunschweig erleben. Zwei Stücke, „Granma. Posaunen aus Havanna“ von Rimini Protokoll und „Pleasant Island“ von Silke Huysmans und Hannes Dereere kommen per Post in die heimischen Briefkästen. Vier Arbeiten werden als Installationen in der Löwenstadt zu sehen sein. Darunter die Videoinstallation „Thirst“ von Voldemars Johansons, die einen Jahrhundertstrum auf den Färöer Inseln erfahrbar macht, im Großen Haus des Staatstheaters. Die Installation „Los Sobrevidentes“ von Laura Liz Gil Echenique im einRaum5-7 ist ein partizipatives Projekt, an dem Senior*innen aus Braunschweig teilgenommen haben. Und in „Wanaset Yodit“ präsentiert Laila Soliman im Gartenhaus Haeckel ihre neueste Arbeit über und mit Abir Omer und Yodit Akbalat, die vor einigen Jahren aus Sudan nach Norddeutschland geflüchtet sind.

Ein Weihnachtsteller, darauf ein abgenutzter Kaffeetopf aus Kupfer und zwei weiße Mocca-Tassen mit einem Rest Mocca.
Die Installation „Wannaset Yodit“ ist im Gartenhaus Haeckel im Theaterpark zu sehen. Foto: L.Soliman

Theaterformen online

Online werden sieben Arbeiten gezeigt: Der Theatermacher und Geschichtenerzähler Ogutu Muraya erzählt in seiner Videoarbeit „The Ocean Will Always Try to Pull You In“ über die Komoren. Aus Indonesien kommen gleich zwei Videoarbeiten des Choreografie-Stars Eko Supriyanto: „Salt“ und „Ibuibu Belu“. Die fünf Tänzerinnen aus Supriyantos Choreografie „Ibuibu Belu“ berichten über die Spuren, die das COVID19-Virus in Belu hinterlässt. Der japanische Regisseur Yudai Kamisato hat sich die Inselgruppe Okinawa vorgenommen und wagt in seinem neuen Hörstück „Khao Khao Club“ eine angeschickerte Neuordnung ostasiatischer Geografie.

Zwoisy Mears-Clarke und Venuri Perera diskutieren in „Porcelain White: The Conversation“ über die Kontinente hinweg zum weißen Erbe in Körpern of Colour. Ira Brand, die sich eigentlich mit ihrem Publikum ins Gefecht begeben hätte, bietet neben einem Hörstück mit „The Practice of Emptying Space“ auch eine Videoanleitung für heimische Ringkämpfe an. Lígia Soares unterhält sich online mit Jesse James, dem Leiter des Walk & Talk Festival auf den Azoren, über das atlantische Archipel, eine Gemeinschaft auf Zeit und Isolation und Verbundenheit. Und auch düstere Inselgeschichten finden im Programm Platz – wie der transatlantische Handel mit versklavten Personen, über den Theatermacherin Selina Thompson mit der US-amerikanischen Autorin Saidiya Hartman spricht.

Zwei ältere Damen entwirren ein rotes Wollknäuel.
Im einRaum5-7 ist die Installation Los Sobrevidentes zu sehen. Foto L.Gill Echenique

Wer mich kennt, weiß, dass die Theaterformen eine meiner Lieblingsveranstaltungen in Braunschweig sind. Seit zehn Jahren verpasse ich keine Ausgabe – ob in Hannover oder in der Löwenstadt. Ich bin fasziniert von der Selbstverständlichkeit, mit der internationales Theater gezeigt und gesehen wird. Jedes Jahr aufs Neue bin ich gespannt, welchen thematischen Schwerpunkt die Festivalleiterinnen setzen. Ich setze mich – mit den Figuren auf der Bühne mitfühlend – emotional mit Themen auseinander, die mir sonst nur marginal begegnen. Und immer beschäftigen mich ein oder zwei eindrucksvolle Theaterstücke noch Wochen oder Monate später, manchmal sogar noch Jahre danach. Ich bin froh, dass Corona das Festival nicht in die Knie zwingen konnte. Und dass sich die Theatermacher*innen so kreativ auf die neue Situation einstellen konnten und in so kurzer Zeit eine Sonderausgabe der Theaterformen auf die Beine stellen konnten. Ein großes Dankeschön!

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