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Grenzen aufbrechen, Fassaden fallen sehen

Beginnen wir am Ende. Wir sitzen alle in einem gemütlichen Hinterhof, in Kleingruppen tauschen wir uns angeregt aus: Wie habt ihr das empfunden? War das für dich auch eine besondere Situation? Ich war noch nie da, kanntest du den Ort? Zwei Stunden vorher, zu Beginn, waren die meisten von uns sich noch völlig fremd. Auch ich kannte niemanden, als ich mich um kurz vor 17 Uhr am Braunschweig Kolleg in die Schlange einreihte, um meinen Kopfhörer zu erhalten. Ich bin hier, weil ich beim Audiowalk Erobere deine Stadt – Kleine Zukunft Braunschweig mitmache.

Ein kurzes Nicken in die Runde, als ich umständlich mein Abspielgerät an der Hose befestige und den orangenen Kopfhörer aufsetze. Was mich erwarten wird, kann ich mir noch nicht genau vorstellen. Ich weiß nur, dass ich mit ca. dreißig weiteren Personen zwei Stunden lang durch die Stadt spazieren werde.

Startpunkt von Kleine Zukunft Braunschweig ist das Braunschweig Kolleg an der Wolfenbütteler Straße. Foto: BSM

Startpunkt von Kleine Zukunft Braunschweig ist das Braunschweig Kolleg an der Wolfenbütteler Straße. Foto: BSM

Dann geht es los: Eine Stimme bittet uns, uns unter den Säulengang im Eingangsbereich des Braunschweig Kolleg zu versammeln, der Audiowalk beginnt. Oder soll ich lieber Klangperformance sagen? Stefanie Bischoff und Christian Weiß, die beiden Regisseure von Kleine Zukunft Braunschweig, sprechen von einem Theaterformat im öffentlichen Raum. „Die Idee zu einem Audiowalk hatten wir 2011, als das Projekt ‚Auf Probe – Alltagsutopien für das Braunschweiger Land‘ vom LOT Theater und der HBK ausgerufen wurde“, erzählt Christian Weiß. „Wir haben damals einen Audiowalk für Salzgitter entwickelt, weil das unsere Heimatstadt ist. Wir haben uns gefragt, was die Utopien in Salzgitter sind, haben mit den Menschen dort neue Zukünfte erprobt.“ Dass es das Projekt jetzt auch in Braunschweig gibt, liegt an den vielen positiven Reaktionen aus Salzgitter.

Christian Weiß und Stefanie Bischoff. Foto: Kleine Zukunft Braunschweig

Christian Weiß und Stefanie Bischoff. Foto: Kleine Zukunft Braunschweig

„In Braunschweig haben wir natürlich nach einem eigenen Thema gesucht. In gewisser Weise suchen wir auch eine Utopie, aber in erster Linie wollen wir einen neuen Blick auf die Stadt ermöglichen. Das Thema, das sich während unserer Recherchen immer deutlicher herauskristallisiert hat, kann man ganz gut mit ‚Innen und Außen, Fassaden, Grenzen‘ beschreiben.“

Grenzen. Manchmal geben sie Orientierung im Großstadtdschungel. Manchmal beschränken sie aber auch das Miteinander. Foto: BSM

Grenzen. Manchmal geben sie Orientierung im Großstadtdschungel. Manchmal beschränken sie aber auch das Miteinander. Foto: BSM

Ein Jahr lang haben die Vorarbeiten für den Audiowalk gedauert, zunächst haben Stefanie Bischoff und Christian Weiß lange Spaziergänge in Braunschweig unternommen, um ein Thema und einen Ort zu finden. „Dabei stößt man auf ganz besondere Orte, die verborgen oder vergessen sind. Diese Orte verdienen es, dass sie gezeigt werden“, sagt Stefanie Bischoff. Ich erinnere mich an eine Aussage aus dem Audiowalk. Einer der Interviewpartner erzählt, dass es manchmal auch wichtig ist, ein Gebäude oder einen Stadtraum zu enteignen, neu zu entdecken und neu zu bekleiden.

Schattenspiele. Foto: BSM

Schattenspiele. Foto: BSM

Nach den Spaziergängen, als sich das Thema Fassade herauskristallisierte, wurden Interviewpartner gesucht. 30 Interviews haben die zwei geführt, fast 70 Stunden Audiomaterial transkribiert, ausgewertet und in eine zweistündige Performance gebracht. Ihr Ziel dabei war es immer, den Teilnehmern des Walks einen Perspektivwechsel zu bieten. „Wir wünschen uns natürlich, dass die Menschen, die unseren Audiowalk mitmachen, Initiative ergreifen und ihre Stadt gestalten“, sagt Christian Weiß. Stefanie Bischoff ergänzt: „Eine Stadt lebt, weil Menschen in ihr leben, die sie gestalten und die mit ihr leben. Ich interessiere mich für meine Stadt, weil ich sie auch als Akteurin wahrnehme. Die Stadt macht etwas mit mir und wenn mir das bewusst ist, dann gestalte ich vielleicht nicht nur das Private, sondern breche Grenzen auf und agiere im öffentlichen Raum.“

Grenzen zu durchbrechen und mit dem Stadtraum zu agieren, das lernen wir als Gruppe sehr schnell. Zum Beispiel, wenn die Stimme im Kopfhörer uns auffordert, auf einer Mauer entlang zu balancieren. Oder beim Überqueren der Straße nur bestimmte Pflastersteine zu berühren. Den Stadtraum nicht nur als Funktionsraum zu begreifen, sondern auch hinter die Fassade zu schauen, eine Utopie zu leben, das haben wir schnell verinnerlicht. Viele meiner Mitspaziergänger fangen beispielsweise beim Gehen zu Tanzen an. Oder begutachten eine Efeuranke, die eine Mauer hinunterklettert – ohne, dass jemand sie dazu aufgefordert hat. Wir alle nehmen die Stadt auf einmal sehr viel intensiver wahr.

Die Wirklichkeit verändern, das geht manchmal auch durch den Gebrauch einer Spektralbrille. Foto: BSM

Die Wirklichkeit verändern, das geht manchmal auch durch den Gebrauch einer Spektralbrille. Foto: BSM

Und das, obwohl wir, abgeschirmt durch die Kopfhörer, eigentlich in einer ganz anderen Welt sind. Die Klanginstallation führt uns in eine Zwischenwelt, dabei bewegen wir uns im realen Raum. Das fühlt sich komisch und gleichzeitig gut an. Manchmal taumle ich ein wenig, wenn ich zu sehr auf den Beat höre und ich sehe, dass es anderen genauso geht. Dass wir nicht in brenzlige Situationen kommen, liegt an den Begleitpersonen, die uns immer im Auge haben. Sie passen auf, dass beim Überqueren von Straßen niemand zurückbleibt und dass wir auf den Bürgersteigen bleiben.

Damit wir in Sicherheit durch die Stadt wandern können, begleitet uns das Team von Kleine Zukunft Braunschweig. Foto: BSM

Damit wir in Sicherheit durch die Stadt wandern können, begleitet uns das Team von Kleine Zukunft Braunschweig. Foto: BSM

Es ist schon komisch, eigentlich sind wir ja auf uns allein gestellt: Nur ich und die Stimme in meinem Ohr sind in der Stadt unterwegs. Gleichzeitig haben wir uns einen Partner gesucht, mit dem wir immer wieder Szenen gemeinsam erleben. Und dann sind wir unübersehbar eine Gruppe und werden von außen als eins wahrgenommen. Vorbeifahrende Radfahrer winken uns zu, Spaziergänger lachen uns an. Während der zwei Stunden bin ich gleichzeitig allein, zu zweit und eine Gruppe. Ein schönes Gefühl.

Wie es weitergeht, frage ich zum Ende das Team. „Das Schöne am Theater ist das Temporäre: Das Projekt verschwindet, aber hoffentlich bleibt die Erinnerung daran“, sagt Christian Weiß. „Ob wir das Projekt noch einmal in Braunschweig realisieren, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dahinter steht ja ein großer logistischer Aufwand: Für die Installationen müssen Genehmigungen eingeholt werden, uns werden für bestimmte Räume Schlüssel anvertraut, wir treffen auf dem Rundgang Personen, die müssten dann auch wieder Zeit haben.“ Stefanie Bischoff ergänzt: „Außerdem reizt uns das Neue, wir wollen das Konzept in anderen Städten, auch international, ausprobieren. Auch, um andere Mentalitäten kennen zu lernen, die Potenziale anderer Städte zu erkunden. Aber es ist nicht auszuschließen, dass es diesen Walk nicht doch noch einmal in Braunschweig gibt.“

Waren Sie schon einmal an diesem Ort? Ich vorher noch nicht. Foto: BSM

Waren Sie schon einmal an diesem Ort? Ich vorher noch nicht. Foto: BSM

Noch sieben Termine gibt es in Braunschweig, eine Teilnahme kann ich nur empfehlen. Ich war an Orten, an denen ich vorher noch nie war, habe Menschen getroffen, die mir – auch ohne dass wir uns unterhalten haben – plötzlich nah geworden sind, und habe vor allem gelernt, den Blickwinkel einfach mal zu verändern, um Neues über Braunschweig herauszufinden.

Informationen

Erobere deine Stadt – Kleine Zukunft Braunschweig
Ein Audiowalk von Stefanie Bischoff und Christian Weiß

Termine: 11. bis 12. September 2015, 21. bis 26. September 2015
Mo. bis Fr.: 17 Uhr, samstags 12 Uhr

Karten für den Audiowalk können online unter http://www.kleine-zukunft.de/ gebucht werden oder unter der Telefonnummer 0152 26 06 27 10.

(Artikelbild: BSM)

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