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Im Wunderland der Zinnfiguren

Der Schäfer treibt mit seinen Hunden die Schafe von der Weide, die Wäsche weht an der Leine, eine Kutsche mit Männern fährt zum Hof, Kinder füttern die Hühner und eine Katze jagt eine Maus? Ein Huhn? Ich weiß es nicht. Ich beobachte eine Ernteszene und mache immer wieder neue Entdeckungen je länger ich vor dem Schaukasten „Erntezeit – Großvaters Geburtstag, Sommer um 1850“ stehe. Sogar ein kleines Toiletten-Häuschen mit ausgeschnittenem Herz ist zu sehen, im Stall strecken die Pferde neugierig ihre Köpfe aus der Tür und eine Gänseschar watschelt durch das Gras.

Das Diorama zeigt eine Jagdszene im Schnee. Foto: Städtisches Museum, Dirk Scherer.

Das Diorama zeigt eine Jagdszene im Schnee. Foto: Städtisches Museum, Dirk Scherer.

Ich bin im Städtischen Museum im Altstadtrathaus und betrachte die verschiedenen Dioramen der Sonderausstellung „Schätze aus Zinn“. In einer anderen Szene erblicke ich inmitten einer verschneiten Landschaft eine erfolgreiche Jagdgesellschaft. Das erlegte Wild liegt auf dem Boden und die Männer blasen in ihre Hörner. Ich sehe, wie die Hunde aufgeregt durch den Schnee tollen und kann ihr lautes Bellen förmlich hören – so detailverliebt sind die Dioramen.

Früher habe ich mit Playmobil, Lego und Co. gespielt, habe Stunden um Stunden Häuser gebaut, Städte erschaffen und mindestens auch Imperien gegründet. Zu Großmutters und Großvaters Zeiten waren es allerdings Figürchen aus Zinn, mit denen sich die (kleinen) Abenteurer beschäftigt haben. Noch heute gibt es viele Bastler und Sammler, die ihre Leidenschaft dafür ausleben. Dieser Faszination ist die Sonderausstellung „Schätze aus Zinn“ auf der Spur: Sie zeigt viele verschiedene Stücke aus der Sammlung des Museums und gibt Einblick in die Produktion der kleinen Kostbarkeiten.

Die Schaukästen geben einen guten Eindruck in den Alltag von damals. Foto: BSM

Die Schaukästen geben einen guten Eindruck in den Alltag von damals.
Foto: BSM

Die stellvertretende Direktorin des Städtischen Museums, Heidemarie Anderlik, führt mich durch die Sonderausstellung und erklärt so manch wissenswertes Detail. So hat das Städtische Museum 1936 die Werkstatt der letzten Zinngießerei Braunschweigs samt Inventar und Schieferformen für tausend Figuren sowie diverser Zeichnungen übernommen. Die Produktion lag zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Händen von Johann Heinrich August Denecke. 1821 übernahm Carl Wegmann die Werkstatt an der Hagenbrücke. 75 Jahre später, im Jahr 1896, wurde der Geselle Bernhard Börning der Besitzer. Dieser führte die Zinngießerei bis zu seinem Tod 1935 und damit endete auch die Produktion in der Löwenstadt.

Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt natürlich auf der Sammlung der verschiedenen Schätze aus Zinn. Von Soldaten, Fahnenträgern und Kanonen über Tiere und Pflanzen bis hin zu feinen Damen in prunkvollen Gewändern kann ich einiges entdecken. Mit viel Mühe und Aufwand sind die zarten Kunstwerke gemacht worden, wie Heidemarie Anderlik erläutert. Die Herstellung der filigranen Stücke ist äußerst zeitintensiv: Zunächst werden die Figuren auf Papier gezeichnet (verschiedene Zeichnungen liegen übrigens auch im Museum aus) und dann in Schiefer geritzt. Die so entstandene Form wird dann mit der Zinnlegierung übergossen. Auskühlen lassen, bearbeiten, abschleifen und die Figur ist fast fertig. Fehlt nur noch Farbe! Diese konnten die Liebhaber der Figürchen übrigens selbst auftragen. Die genauen Farben und Preise (denn das Sammeln und Bemalen der Figuren war ein zeitintensives und vor allem teures Hobby) sind den ausliegenden Bestelltabellen zu entnehmen.

Die filigranen Zinnsoldaten sind mit viel Mühe (und einer ruhigen Hand) bemalt worden. Foto: BSM

Die filigranen Zinnsoldaten sind mit viel Mühe (und einer ruhigen Hand) bemalt worden.
Foto: BSM

Wie die Herstellung genau abläuft, erklärt außerdem ein Film, der im Kinosaal zu sehen ist: Hier zeigt und erklärt Klaus Gerteis vom Volkskunde- und Freilichtmuseum Roscheider Hof bei Konz die Abläufe bei der Herstellung der Figuren.

Mein persönlicher Höhepunkt der Ausstellung sind die zwölf Dioramen, aus denen die eingangs beschriebenen Szenen stammen. Der Augenarzt Dr. med. Harald Behme hat sie in liebevoller Kleinarbeit gebaut. „Sie zeigen historisch detailgetreu verschiedene Szenen aus der damaligen Zeit“, erklärt Heidemarie Anderlik und ergänzt: „Besonders bei den Dioramen zu den vier Jahreszeiten bekommen unserer Besucherinnen und Besucher einen Einblick in den Alltag von damals.“

Ausgestellt sind außerdem Bilder des Ehepaars Wegmann sowie ein originales Fenster aus der Werkstatt, in dessen Glas verschiedene Gesellen ihren Namen geritzt haben. Zudem hängen verschiedene Fotografien aus, um den Besucherinnen und  Besuchern einen Eindruck zu vermitteln, wie die Zinngießerei ausgesehen hat.

Aus dem einstigen Anschauungsmaterial wird Spielzeug. Foto: BSM

Aus dem einstigen Anschauungsmaterial wird Spielzeug.
Foto: BSM

Heidemarie Anderlik erklärt mir, dass Schüler im 18. Jahrhundert die Zinnfiguren zunächst als Anschauungsmaterial nutzten. Bücher waren zu teuer, dennoch sollten die Schüler mehr über Flora und Fauna erfahren. So wurden verschieden Pflanzen, Blätter und Tiere, aber auch historisch wichtige Persönlichkeiten aus Zinn hergestellt. Mehr und mehr wurde das eigentliche Anschauungsmaterial aber auch zum Spielen genutzt – die Figuren fanden ihren Weg ins Kinderzimmer. Um den ersten Weltkrieg herum flaute die Begeisterung für das neue Spielzeug ab, aber heute entdecken Liebhaber den Zauber des Zinns wieder.

So erging es auch Heidemarie Anderlik und ihren Mitarbeitern im Museum: „Die Sammlung ist schon seit einiger Zeit in unserem Depot. Wir sind immer wieder daran vorbei gegangen und waren von den kunstvoll hergestellten Figuren begeistert. Wir hoffen, dass wir diesen Zauber in unserer Ausstellung wiedergeben können“, so die Direktorin.
Die vielen verschiedenen Figuren, die dazugehörigen Zeichnungen und auch das gezeigte Inventar der Werkstatt machen  „Schätze aus Zinn“ zu einem schönen Erlebnis mit der ganzen Familie. Es darf entdeckt, gestaunt und bewundert werden!

Informationen

Schätze aus Zinn
29. November 2015 bis 14. Februar 2016
Städtisches Museum Braunschweig,  Altstadtrathaus, Altstadtmarkt 7, 38100 Braunschweig
Telefon: (0531) 470 4551 | Mail: museum@braunschweig.de
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10:00 bis 17:00 Uhr, Eintritt frei
Führungen und Vorführungen der Zinngießer-Kunst können unter der genannten Telefonnummer gebucht werden.

Beitragsbild: Städtisches Museum, Dirk Scherer

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