Um 16.38 Uhr schwappt die Laola-Welle durchs Eintracht-Stadion. Sie ist so bunt wie die Trikots der Sportler, denn Fans aus verschiedenen Nationen feiern ihre Helden in allen möglichen Farben. In der Nordkurve färbt sich die Welle sichtbar orange. „Oranje“ – ganz klar, das sind die Holländer. Sie machen nicht nur die Welle, sie machen auch Musik. Ich habe ein Déjà-vu. Vor mehr als zehn Jahren saß ich bei einem Fußball-Länderspiel in einem anderen Stadion im Block neben den Fans der Niederlande und werde nie vergessen, wie sie mit einer kompletten Kapelle das ganze Spiel über Musik gemacht und Lieder gesungen haben. Eine Kapelle haben sie dieses Mal nicht dabei, aber auch in Braunschweig machen die Holländer kräftig Stimmung.
Die Welle zieht weiter. Selbst die Haupttribüne ist voll dabei – beim Fußball ist das häufig der Bereich, in dem die Welle „abzusacken“ droht. Aber nicht heute. Aus dem Nachbarblock schreit jemand auf Russisch seine Begeisterung heraus. Begeisterung, vermutlich nicht primär über die tolle Welle, sondern über die Leistung seines Teams, das nur knapp hinter Deutschland auf Platz 2 liegt. Es geht um viel Prestige in diesem erst vor wenigen Jahren eingeführten Nationenwettkampf, bei dem es – anders als in der Leichtathletik üblich – nicht in erster Linie um die Einzelleistungen geht, sondern die gemeinsame Punktzahl von Sportlerinnen und Sportlern eines Landes.
Ja, Deutschland liegt vorn und wird am Ende gewinnen, vielleicht ist die Stimmung im Eintracht-Stadion auch deshalb so gut. Vor allem aber feiern Fans aller Nationen gemeinsam ein großes Fest – friedlich, entspannt und in freundschaftlicher Atmosphäre. Deshalb klappt auch die Welle so gut. Und weil’s so schön ist, schwappt sie gleich mehrere Runden durch die Arena. Die Sportler werden hinterher von einer herausragenden Atmosphäre in Braunschweig sprechen. „Diskus-Riese“ Robert Harting bezeichnet die Braunschweiger schon beim Interview im Stadion als „fachkundiges Publikum“. Das Schönste an diesem Tag aber ist, dass besagtes Publikum nicht nur die eigenen Athleten anfeuert, sondern auch mit Sportlern aus den anderen Nationen fiebert. Beim Hochsprung hat die Russin Mariya Kuchina bereits den Wettbewerb für sich entschieden. Trotzdem wird jeder ihrer anschließenden Versuche, die Sprunghöhe noch weiter zu steigern, mit Beifall und lautem Jubel belohnt. Bei den Laufwettbewerben wurden die Sportler von 15.000 begeisterten Zuschauern förmlich nach vorne geschrien. Insgesamt besuchten an diesem Wochenende rund 26.000 Sportfans die Team-Europameisterschaft.
Zur guten Stimmung tragen auch die Athleten selbst bei. Zum einen natürlich mit ihren Leistungen, vor allem aber durch die lockere Art, die sie außerhalb des Stadions an den Tag legen – keine Allüren, keine Berührungsängste. Die Stars der europäischen Leichtathletik zeigen sich zwischen den Pavillons der zwölf Teilnehmerländer, die sich rund um das Stadion dem Publikum präsentieren. Ich laufe an Robert Harting vorbei, der gerade geduldig für ein Erinnerungsfoto mit zwei Fans posiert. Eine Kollegin ist an der Pommesbude Betty Heidler begegnet. Die leckeren Fritten hatte sich die Weltrekordlerin nach ihrem souveränen Sieg im Hammerwurf wohl verdient.
Bei der Siegerehrung zeigen die Franzosen, wie sehr man sich auch über einen dritten Platz freuen kann. Schon während der Zeremonie tanzen sie übermütig. Im Freudentaumel mogeln sich einige von ihnen sogar auf das oberste Treppchen und somit auf das Siegerfoto der deutschen Mannschaft. Dass das die deutschen Athleten überhaupt nicht stört und stattdessen alle gemeinsam weiterfeiern, zeigt, dass diese Team-Europameisterschaft ein Fest der Nationen und der Kulturen ist – unten auf dem Rasen genauso wie oben auf der Tribüne. Nur die Holländer waren etwas traurig. Sie müssen nach Platz 10 in Braunschweig ebenso wie Tschechien (11) und die Türkei (12) den Abstieg aus der sogenannten Superliga hinnehmen. An den Fans hat es jedenfalls nicht gelegen.
(Artikelfoto: BSM)