Gänsehaut – ich kann gar nicht beschreiben, was in mir vorgeht, als die einzelnen Stimmen der Chormitglieder zum Gesang des Braunschweiger Spiritualchors verschmelzen und sie „Didn’t My Lord Deliver Daniel“ schmettern. Es ist kraftvoll und vor allem mitreißend. Plötzlich bemerke ich, wie mein Fuß wippt, meine Schultern zucken und ich mit dem Kopf nicke. Wie selbstverständlich bewege ich mich im Rhythmus der Musik, öffne den Mund, um einzustimmen und – gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass ich gar nicht singen kann und ich schließe den Mund wieder. Puh!
Es ist Mittwochabend. Für den Braunschweiger Spiritualchor bedeutet das: Probenzeit. Pünktlich um 18:15 Uhr sitzen die Sängerinnen und Sänger auf ihren Stühlen in der Bugenhagenkirche. Chorleiter Karl-Heinz Mühlhausen kommt immer schon früher und bereitet den kleinen Probenraum für den Chor, den er vor 48 Jahren gegründet hat, vor. „Ich wollte damals etwas Modernes in der Kirche singen“, erzählt er. „Da gab es nur Spirituals.“ Das sind geistliche Gesänge, frei improvisiert von Sklaven zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in denen sie ihren Glauben an das Alte Testament und ihre Hoffnung auf Befreiung besingen. „Gospels gab es damals in Deutschland gar nicht“, klärt mich Karl-Heinz Mühlhausen auf. Die sind erst im 20. Jahrhundert entstanden und später nach Deutschland gekommen. Gospels bedeuten eine Abkehr von der Spiritual-Tradition und haben eine politische, oft sogar progressive Bedeutung im Kampf schwarzer Menschen um Gleichberechtigung. Während sich Spirituals auf die Verheißungen des Alten Testaments beziehen, stützen sich Gospels auf die Aussagen der Evangelien im Neuen Testament.
Der Braunschweiger Spiritualchor singt überwiegend Spirituals, aber auch Gospels. 170 Stücke umfasst ihr Repertoire, das sie streng nach Noten singen. Notenblätter brauchen sie trotzdem nicht, bei Konzerten performen sie jedes Stück auswendig und das bis zu zwölfstimmig. Kein Wunder, dass der Chor für die Mitglieder zwar ein Hobby ist, aber auch viel Zeit kostet – besonders die Konzerte. „Es ist nicht damit getan, sich hinzustellen und zwei Stunden zu singen. Wir gucken uns die Kirchen an, in denen wir auftreten, bringen unsere eigenen Podeste mit, die wir selbst aufbauen und wir proben natürlich“, erklärt mir Andreas Klinkig. Er ist bereits seit 30 Jahren Mitglied im Braunschweiger Spiritualchor. „Es kommt vor, dass neue Mitglieder wieder aufhören, weil ihnen der Zeitaufwand zu groß ist.“ Er muss es wissen, denn er ist für neue Mitglieder zuständig, nimmt sie unter seine Fittiche und hilft dabei, sie in den Chor zu integrieren. „Im Chor geht es ja auch um soziale Kontakte. Ich würde sagen, wir sind so etwas wie eine familiäre Gemeinschaft“, beschreibt es Klinkig. Das bestätigt auch Mühlhausen: „Einige Mitglieder sind schon seit den Anfängen dabei. Wir haben über 300 Konzertreisen zusammen unternommen und auch nach den Proben geht es oft noch ins Gemeindehaus.“
Als ich die Probe beobachte, kann ich die Beschreibung gut nachvollziehen. Es ist wirklich familiär, auch wie der Chorleiter zu Beginn mit väterlicher Strenge auf seine Schäfchen blickt. Er klatscht zweimal in die Hände, angeregte Gespräche verstummen. Sie starten mit Lockerungs- und Einsingübungen: Arme nach oben, ausschütteln, Arme nach vorne, Hände umeinander kreisen lassen. Wie beim Sport, denke ich mir. Das überrascht mich als Gesangslaien. Wie laienhaft ich wirklich daher komme, wird mir aber vor allem danach bewusst, als die Chormitglieder beginnen, sich einzusingen. Anweisungen wie „auf -ng schmieren“ oder „Spannung bis zum Schluss halten“ verwirren mich ebenso sehr wie allerlei scharfe, quietschende, zischende Geräusche, die die Stimmbänder aufwärmen. Aber es scheint zu wirken: Als der Chor sein erstes Stück zum Einsingen anstimmt, bin ich überzeugt.
Danach gibt es klare Ansagen vom Chorleiter, wie es weitergeht, meist begleitet von einem Schmunzeln, manchmal gespickt mit einem Witz, immer quittiert mit vielstimmigem Lachen. Die gute Laune ist hier allgegenwärtig. Trotzdem muss ich zugeben, Mühlhausen hat ‚seinen‘ Chor im Griff. „Chorleitung ist diktatorisch“, erklärt er mir. „Das muss auch sein, um eine gewisse Qualität zu erreichen. Früher wollte ich sogar den größten und besten Chor, den man sich vorstellen kann. Aber die Zeiten sind vorbei. Jetzt geht es um die Gemeinschaft. Bei Konzerten ist man in einer anderen Welt. Ich habe das Gefühl, etwas Tolles zu schaffen, etwas zu bewegen, wenn wir auftreten und die Zuhörer mitreißen“, erzählt mir Mühlhausen. Kein Wunder, dass er so viel Zeit und Leidenschaft in den Chor steckt. „Das ist mein Lebenswerk“, fügt er hinzu.
Auch bei allen anderen Mitgliedern ist offensichtlich, dass sie mit Ehrgeiz bei der Sache sind. So kann es vorkommen, dass selbst der Chorleiter mal gebremst wird: „Moment, können wir die eine Zeile nochmal für den hohen Bass proben? Wir haben es noch nicht ganz raus.“ Und dann arbeiten sie daran, bis es sitzt. Von dem Ergebnis der harten Arbeit können Sie sich beim 8. Internationalen Gospelkirchentag überzeugen. Das größte Gospelfestival Europas holt 5.000 Sängerinnen und Sänger nach Braunschweig und präsentiert vom 9. bis 11. September Gospel in verschiedenen Formaten. Auch der Braunschweiger Spiritualchor ist dabei und gibt am 9. September um 20:30 Uhr ein Konzert in der Kirche St. Katharinen. Ich bin auf jeden Fall gespannt darauf. Nur: Wenn mich schon die Probe so mitreißt, wie soll ich mich dann beim Konzert vom Mitsingen abhalten?
Beitragsbild: BSM
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