Jedes Jahr, kurz vor der Eröffnung des Weihnachtsmarkts, wird in Braunschweig eine große, schön gewachsene Tanne gefällt und aufwendig zum Domplatz transportiert, um dort als geschmückter Weihnachtsbaum die Weihnachtsmarktbesucher zu begeistern. Der auserwählte Baum in diesem Jahr hat eine besondere Weihnachtsgeschichte, denn er ist nicht zum ersten Mal ein Weihnachtsbaum.
Als ich morgens um 7:30 Uhr vor dem Haus von Frau Fischer in der Südstadt parke, stehen die Kollegen vom Stadtgrün schon mit einem Hubsteiger bereit, kurze Zeit später rollt ein Autokran in die schmale Straße der Wohnsiedlung. Gleich wird hier der diesjährige Weihnachtsbaum für den Domplatz gefällt, und obwohl die Kollegen regelmäßig Bäume fällen, ist dieser Auftrag wie in jedem Jahr eine Mammutaufgabe: Damit die vierzehn Meter hohe Colorado-Tanne heil auf dem Domplatz ankommt, muss sie von einem Autokran gehalten, am Stamm abgesägt und mit dem Kran auf einen Schwertransporter gelegt werden, der sie schließlich in die Innenstadt bringt.
Zum zweiten Mal ein Weihnachtsbaum
„Ich habe seit Tagen nicht richtig geschlafen“, erzählt mir Frau Fischer, die Spenderin des diesjährigen Weihnachtsbaums. Sie ist sehr aufgeregt, dass es nun tatsächlich losgeht, und auch etwas wehmütig, da sie viele Erinnerungen mit der Tanne verbindet. „Vor etwa vierzig Jahren war dieser Baum unser Weihnachtsbaum“, erzählt sie. Rund anderthalb Meter war er damals hoch und stand an Heiligabend im Topf schön geschmückt im Wohnzimmer der Familie. Nach dem Fest wurde der Baum in den Garten gepflanzt, um den sich ihr Mann leidenschaftlich kümmerte. „Insbesondere im Ruhestand war der Garten sein Ein und Alles, er hing wirklich an jedem Zweig“, berichtet Frau Fischer. Vor drei Jahren ist ihr Mann kurz vor Heiligabend verstorben, weshalb ihr die Entscheidung, den Baum fällen zu lassen, nicht ganz leichtgefallen sei.
Gezielte Baumauswahl
Jedes Jahr erreichen Herrn Ulber vom Stadtgrün mehrere Angebote von Braunschweigerinnen und Braunschweigern, die eine Tanne aus ihrem Garten für den Braunschweiger Weihnachtsmarkt spenden möchten. Im Herbst fährt Herr Ulber deshalb durch die Stadt, schaut sich die angebotenen Bäume genau an und prüft, ob sie sich als Baum für den Weihnachtsmarkt eignen. Denn dieser muss bestimmte Anforderungen erfüllen: Zwischen zwölf und neunzehn Metern groß, dicht gewachsen, ohne braune Nadeln aber mit erkennbarer Spitze sollte er sein.
Auf dem Rückweg von einer solchen Besichtigung entdeckte Herr Ulber die Colorado-Tanne im Garten von Frau Fischer, klingelte kurzerhand an ihrer Haustür und fragte, ob sie bereit wäre, den Baum für den Weihnachtsmarkt zur Verfügung zu stellen. Die war zunächst natürlich sehr überrascht, entschied aber nach reiflicher Überlegung gemeinsam mit ihrem Sohn, den Baum zu spenden. „Es ist doch schön, wenn sich Braunschweiger und auswärtige Besucher über unseren großen Baum freuen, wenn sie den Weihnachtsmarkt besuchen“, sagt sie heute.
Feingefühl für ein Schwergewicht
Als die Vorbereitungen zu den Baumfällarbeiten beginnen, kommen die Nachbarn aus ihren Häusern und gucken zu – so eine Aufregung gibt es selten in der beschaulichen Wohnsiedlung. Frau Fischer hat spontan ihren Kegelclub eingeladen, das Spektakel gemeinsam zu erleben, und so genießen sie Schnittchen und Punsch, während die Kollegen vom Stadtgrün mit dem Hubsteiger zur oberen Hälfte des Baumes fahren und dort am Stamm ein Gurtsystem, den sogenannten Schlupf, befestigen. Mit Seilen wird dieser oberhalb der Tannenspitze an einem Kranhaken befestigt und sorgt dafür, dass der Baum später angehoben werden kann, ohne dass viele Äste abbrechen. Parallel manövriert sich ein Schwerlast-Auflieger im Rückwärtsgang in die Straße und hält neben dem Autokran.
Nun kann die tatsächliche Baumfällung beginnen – und sie ist schneller vorbei, als ich dachte. Ein Arbeiter setzt die Kettensäge an und sägt zweimal um den dicken Baumstamm. Langsam und vorsichtig hebt der Kran die Tanne an und lässt sie über den Garten und die Hecke bis über den Auflieger schweben, ziemlich grazil für einen 14-Meter-Baum, der knappe zweieinhalb Tonnen wiegt, finde ich. Dort wird die Tanne vorsichtig abgelegt – eine Millimeterarbeit, die viel Feingefühl erfordert – damit sie transportsicher liegt und keine Äste abbrechen. Mit Gurten wird der Baum befestigt und dann heißt es warten bis zur Abfahrt um 22 Uhr, da es vorher keine Transportgenehmigung für das Schwergewicht gibt.
Reise eines Weihnachtsbaums
Unter Polizeibegleitung rollt der Schwertransport am Abend los in Richtung Domplatz. Für die rund sechs Kilometer lange Strecke benötigt er etwa eine Dreiviertelstunde und wieder eine große Portion Feingefühl – wenn es zum Beispiel um Kurven geht. Auf dem Domplatz angekommen, hievt der Kran den Baum vom Transporter und lässt ihn über dem Boden schweben, damit die Mitarbeiter vom Stadtgrün den Baumstamm mit der Kettensäge noch etwas „anspitzen“ können. Schließlich wird er in einen Gully eingelassen und dort mit Holzkeilen fixiert – er hat seinen Standort für die folgenden Wochen erreicht.
Mit rund 20.000 LED-Lichtern wird der Baum in den folgenden Tagen geschmückt, bevor er bei der Eröffnung des Weihnachtsmarktes zum ersten Mal voll erleuchtet wird. Das wird sich auch Frau Fischer anschauen: „Der diesjährige Weihnachtsmarkt mit unserem Baum wird für mich ein ganz besonderer“, erzählt sie. „Natürlich werde ich öfter hingehen und meinen Baum anschauen. Vor allem hoffe ich aber, dass er vielen Menschen Freude schenkt in diesem Jahr.“
Beitragsbild: Schwebende Tanne: Der Weihnachtsbaum vom Domplatz am Kran. Foto: Braunschweig Stadtmarketing GmbH
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